Bevor der Abend kommt
sei Dank, dir geht es gut.«
Faith saß immer noch auf der Treppe vor dem Haus und wiegte ihren Körper gleichmäßig hin und her, als wollte sie die Bewegungen der Äste des Ahornbaumes in ihrem Vorgarten imitieren. Cindy trat aus dem Haus und setzte sich neben sie. »Faith?«
Faith sagte nichts, sondern wiegte sich nur wortlos weiter von einer Seite auf die andere.
»Faith, was ist los?«
»Es tut mir Leid«, hauchte Faith so leise, dass Cindy sich nicht sicher war, ob sie überhaupt etwas gesagt hatte.
»Was tut Ihnen Leid? Ist irgendwas passiert?«
Faith sah sie verwundert an. »Nein.«
»Was ist denn dann los? Was machen Sie hier draußen?«
»Weint das Baby?«
»Nein, es schläft tief und fest.«
Faith strich sich unsicher über die Brüste.
»Es hat bestimmt Hunger.«
»Er schläft«, widersprach Cindy.
»Ich bin eine schlechte Mutter.«
»Nein, das sind Sie nicht. Sie sind eine wundervolle Mutter«, versicherte Cindy ihr wahrheitsgemäß und erinnerte sich an Faiths Begeisterung, als sie an ihre Tür geklopft hatte, um ihre Schwangerschaft zu verkünden, wie nett sie Cindy um jeden
Rat gebeten hatte, den diese ihr geben könnte, und wie wunderbar sanft und geduldig sie mit dem Baby umging. »Vielleicht sollten wir lieber reingehen.«
Faith leistete keinerlei Widerstand, als Cindy ihr auf die Beine half. Sie führte sie durch den breiten Flur in das Wohnzimmer auf der Rückseite des Hauses. Auf dem Holzboden lag ein blau melierter Pullover neben dem Stutzflügel. Faith bückte sich, um ihn aufzuheben, schob ihre Arme grob durch die Ärmel und knöpfte die drei weißen Köpfe zu. Dann ließ sie sich auf ein grünes Samtsofa sinken und legte den Kopf auf das Polster.
»Wie ist Ryans Büronummer?«
»Ryan ist auf der Arbeit«, sagte Faith.
»Ja, ich weiß. Ich brauche seine Telefonnummer.«
Faith starrte leeren Blickes auf die hellgrüne Wand gegenüber.
»Schon gut. Ich finde sie auch so. Sie bleiben hier und legen sich hin.«
Faith lächelte, hob gehorsam die Füße auf das Sofa und zog die Knie an die Brust.
An der Pinnwand neben dem Telefon fand Cindy Ryans Büronummer. Sofort nach dem ersten Klingeln wurde abgenommen.
»Ryan Sellick«, sagte der Mann zur Begrüßung.
»Ryan«, sagte Cindy klar und deutlich, »hier ist Cindy Carver. Ich glaube, Sie sollten besser nach Hause kommen.«
3
»Du bist zu spät.«
»Tut mir Leid. Früher ging’s nicht.«
»Ich hatte gesagt, vier Uhr«, erinnerte Leigh ihre Schwester und tippte demonstrativ mit ihren breiten, rot lackierten Nägeln auf das goldene Armband ihrer Uhr, bevor sie ihr mit frischen Strähnchen verziertes Haar aus ihrem beinahe hysterisch verkniffenen Gesicht strich. Die Ungeduld in ihren hellbraunen Augen wurde von einem dicken schwarzen Lidstrich und Mascara noch unterstrichen, die wie winzige Kohleklümpchen in ihren Wimpern klebte. Anspannung lag auf ihren Schultern wie ein abgetragener Schal. »Es ist fast halb fünf«, sagte sie. »Marcel muss um fünf gehen.«
»Es tut mir wirklich Leid.« Cindy blickte von ihrer Schwester zu dem kleinen Mann mit lockigen Haaren in enger brauner Lederhose, der sich in der anderen Ecke des langen, voll gestopften Raumes mit seinem Assistenten beriet. »Es gab ein Problem mit meiner Nachbarin. Sie benimmt sich sehr seltsam. Ich fürchte, das Ganze ist mir irgendwie entglitten.«
»Das tut es doch immer«, sagte Leigh.
»Was soll das denn heißen?«
»Vergiss es, jetzt bist du hier. Also lass uns keine große Sache draus machen.«
Cindy atmete tief ein und zählt stumm bis zehn. Wenn du dir nicht ausgerechnet einen Schneider mitten in der Pampa gesucht hättest, hätte ich es vielleicht pünktlich geschafft, wollte sie sagen. Wenn du diese blöde Anprobe nicht mitten in der Rushhour angesetzt hättest, wäre ich vielleicht nicht ganz so
spät gekommen. Außerdem bist du diejenige, die eine große Sache daraus macht, nicht ich. Stattdessen sagte sie: »Und wie läuft es bisher?«
»Wie zu erwarten.« Leigh senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. »Mutter macht mich wahnsinnig.«
»Was habt ihr beide da zu flüstern?«, fragte eine raue Stimme aus einer der Umkleidekabinen auf der Rückseite des Ladens.
Cindy drehte sich um und registrierte die Details des kleinen Schneidersalons mit einem Blick: das große Schaufenster, nackte weiße Wände mit Ständern, an denen Samt- und Seidenkleider in diversen Stadien der Fertigstellung hingen, Ballen hellen Stoffs, die den Boden und die
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