Bevor der Abend kommt
massierte.
»Tut dein Arm weh?«, fragte Heather.
»Ich versuch’s noch einmal bei Julia.« Wieder zückte Cindy ihr Handy und wählte rasch Julias Handynummer. Wieder hörte sie die gehauchte Stimme und das falsche Bedauern. Tut mir Leid, dass ich Ihren Anruf nicht entgegennehmen kann. Wo bist du Julia, fragte sie sich und spürte, wie die wütenden Blicke ihrer Schwester Löcher in den Rücken ihrer blauen Bluse brannten. »Julia, es ist fast fünf Uhr«, sagte Cindy kühl. »Wo zum Teufel steckst du?«
4
Als Julia zum ersten Mal verschwand, war sie vier Jahre alt. Cindy war mit den Mädchen in einen Park in der Nähe gegangen und gerade damit beschäftigt, Heather auf der Schaukel anzuschubsen, als sie bemerkte, dass Julia nicht mehr bei den anderen Kindern im Sandkasten war. In den folgenden zwanzig Minuten war sie zunehmend außer sich im Kreis gelaufen, hatte wildfremde Menschen angesprochen und ahnungslosen Passanten hinterher gerufen: »Ich habe meine kleine Tochter verloren. Bitte, hat irgendwer meine Tochter gesehen?«
Sie hatte sich Heather über die Schulter geworfen wie eine alte Handtasche und war nach Hause gerannt, um die Polizei zu alarmieren, nur um Julia auf der Treppe vor dem Haus vorzufinden. »Warum habt ihr so lange gebraucht?«, wollte die Kleine wissen. »Ich hab schon auf euch gewartet.«
Wartete Julia jetzt auch irgendwo auf sie, fragte Cindy sich, als sie das Schlafzimmer betrat, wo ihre jüngere Tochter es sich mit Elvis vor dem breiten Bett gemütlich gemacht hatte und Fernsehen guckte. »Was um alles in der Welt guckst du da?«, fragte Cindy, fasziniert vom Anblick einer üppig ausgestatteten, jungen Frau mit wilder Mähne und einem winzigen weißen Bikini, die grüne Fingerfarben auf die breite Brust eines muskulösen jungen Mannes kleckste und verrieb. Der junge Mann grinste so angestrengt, dass sein Gesicht aussah, als könnte es jeden Moment platzen. Bei der Vorstellung, dass seine weißen Zähne wie Konfetti auf die hellblauen Wände ihres Zimmers regneten, wich Cindy unwillkürlich zurück.
»Die Sendung heißt Blind Date .«
»Wie passend«, dachte Cindy, setzte sich ans Fußende ihres Bettes und versuchte, nicht an den bevorstehenden Abend zu denken. »Und was machen sie da?«
»Sie lernen sich kennen«, gab Heather trocken zurück.
»Manche Menschen tun alles, um ins Fernsehen zu kommen.« Cindy ertappte sich entgegen ihrem festen Vorsatz bei einem Gedanken an Julia. Sie war immer noch wütend, dass ihre ältere Tochter nicht zu der Anprobe erschienen war und noch nicht einmal angerufen hatte, um sich zu entschuldigen. »Runter, Elvis«, sagte Cindy scharf und übertrug ihren Ärger von ihrer Tochter auf deren Hund. Elvis sah sie mit schläfrigen braunen Augen an, seufzte tief und drehte sich auf die Seite.
Zum zweiten Mal verschwunden war Julia nicht ganz ein Jahr nach dem ersten Mal. Cindy hatte Heather zum Mittagsschlaf ins Bett gebracht, war nach unten gekommen, wo die Haustür offen stand und Julia wie vom Erdboden verschluckt war. Cindy hatte das komplette Haus durchsucht und war, den Namen ihrer Tochter rufend, von einer Straßenecke zur anderen gerannt. Als sie nach Hause zurückkehrte, klingelte das Telefon. Es war Tom. »Julia ist hier«, sagte er schlicht, doch man konnte das Lächeln hinter seinen Worten hören. Offenbar war Julia ungeduldig mit ihrer Mutter geworden und die zwölf Blocks bis zur Kanzlei ihres Vaters gelaufen. »Du hast so lange mit Heather gebraucht«, tadelte Julia ihre Mutter, als Tom sie nach Hause brachte.
War Julia wieder ungeduldig mit ihrer Mutter geworden, fragte Cindy sich, schwang sich auf die Beine und ging zum Kleiderschrank.
»Bei der Show«, erklärte Heather, »werden zwei Leute zusammengebracht und dann nachmittags an den Strand oder zum Klettern oder irgendwas geschickt, und später haben sie dann ein romantisches Abendessen zu zweit …«
Wo war Julia? Warum hatte sie nicht angerufen?
»… und am Ende des Tages«, fuhr Heather fort, »erklären
sie beide vor der Kamera, ob sie ein zweites Mal mit der anderen Person ausgehen würden.«
»Auf der Grundlage einer tiefen seelischen Verbindung, wahrscheinlich«, sagte Cindy und tauchte wieder in der Gegenwart auf, wo sie den Blick auf der Suche nach einem Kleidungsstück, das als elegant und sexy durchgehen könnte, an der Reihe ihrer Bügel entlangwandern ließ. »Nicht ein einziges verdammtes Teil.« Julia könnte daraus etwas zusammenstellen, dachte
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