Bevor der Abend kommt
was sie von ihrer schwierigen Tochter sehen sollte.
Wahrscheinlich nicht. Wie hätte sie das ahnen sollen? Und warum ? Es war noch viel zu früh am Tag, um sich der Tatsache bewusst zu sein, dass großes Unglück wie auch das Böse häufig aus dem hoffnungslos Alltäglichen entspringt, dass entscheidende
Augenblicke in der Gegenwart selten bedeutend sind und erst in der Rückschau klar erkannt werden können. Der Morgen des Tages, an dem Julia verschwand, war deshalb für ihre Mutter vollkommen zu Recht nur der nächste in einer langen Reihe vergleichbarer Vormittage, ihr Streit lediglich eine neue Episode einer permanenten Debatte. Nein, Cindy machte sich kaum tief schürfende Gedanken jenseits dessen, was offensichtlich war; Ihre Tochter machte ihr das Leben schwer, so weit nichts Neues.
Julia …
Mutter ...
Schachmatt.
2
»Ich hab einen tollen Mann kennen gelernt.«
Cindy starrte ihre auf der anderen Seite des Campingtischs sitzende Freundin an. Trish Sinclair war der Inbegriff achtloser Weltgewandtheit und altersloser Eleganz. Eigentlich hätte sie nicht schön sein dürfen, doch genau das war sie, mit einem Gesicht voller konkurrierender scharfer Kanten und den unnatürlich schwarzen Haaren, die ihre Modigliani-artigen Züge noch betonten und in dramatischen Locken auf ihre knochigen Schultern und den üppigen Brustansatz fielen, der sich über dem obersten Knopf ihrer knallgelben Bluse wölbte. »Du bist verheiratet«, erinnerte Cindy sie.
»Nicht für mich, Dummerchen. Für dich.«
Cindy legte den Kopf in den Nacken, hielt ihr Gesicht in die Sonne und atmete den leichten Herbsthauch in der Luft ein. In einem Monat würde es wahrscheinlich schon zu kalt sein, um tagsüber auf einer Bank im Garten ihrer Freundin zu sitzen, während sie bei Thunfisch-Sandwich und Chardonnay die Filme auswählten, die sie beim diesjährigen Festival sehen wollten. »Kein Interesse.«
»Lass mich doch erst mal erzählen, bevor du übereilte Entscheidungen triffst.«
»Ich dachte, wir wollten über Filme sprechen.« Cindy blickte Hilfe suchend zu ihrer Freundin Meg. Meg Taylor sah nicht aus wie vierzig, sondern eher wie fünfzehn, und war so blond und flachbrüstig, wie Trish dunkel und vollbusig war. Sie saß in einer abgeschnittenen Jeans und einem rot-weiß gestreiften Träger-Top am anderen Enge der langen Bank und
schien in das entmutigend dicke Programm des diesjährigen Festivals vertieft.
»Der neue Patricia-Rozema-Film klingt gut«, meinte sie leise mit leicht knittriger Stimme wie Silberfolie.
»Welche Seite?«, fragte Cindy dankbar für die Gelegenheit, das Thema zu wechseln. Trishs letzter Verkuppelungsversuch kurz vor Julias Wiedereinzug war ein einziges Desaster gewesen. Nach einem unerbittlichen Kreuzverhör hatte sich der drei Mal geschiedene Anwalt vorgebeugt, doch statt ihr ein versöhnliches Küsschen auf die Wange zu hauchen, wie Cindy es erwartet hatte, rammte er seine Zunge derart tief in ihren Hals, dass Cindy sich schon einen Klempner bemühen sah, um ihn wieder loszuwerden.
» Sondervorführungen «, erklärte Meg ihr. »Seite 97.«
Cindy blätterte hektisch durch den Programm-Katalog des Festivals.
»›Elegant fotografiert und hervorragend besetzt‹«, zitierte Meg aus dem Programmheft, »›beeindruckt Rozemas neustes Werk vor allem durch …‹«
»Ist das nicht die Frau, die immer Filme über Lesben macht?«, unterbrach Trish sie.
»Wirklich?«
Cindys Blick wanderte zwischen ihren beiden engsten Freundinnen hin und her. Cindy und Meg waren seit der elften Klasse unzertrennlich; Cindy und Trish hatten sich gefunden, nachdem sie vor zehn Jahren am Clinique-Tresen bei Holt’s zusammengestoßen waren. » Mansfield Park war nicht über Lesben«, sagte Cindy und dachte, dass die beiden Frauen sich über die Jahre nicht wesentlich verändert hatten.
»Der hatte lesbische Untertöne«, fand Trish.
» Mansfield Park ist von Jane Austen«, erinnerte Meg sie.
»Er hatte auf jeden Fall Untertöne.«
»Und was willst du damit sagen …?«
»Ich will dieses Jahr keine Lesben.«
»Du willst keine Lesben?«
»Ich hab die Nase voll von Lesben. Wir haben letztes Jahr genug Filme über Lesben gesehen.«
Cindy lachte. »Hast du eine Lesben-Quote?«
»Und gilt das auch für Schwule?« Meg nahm einen Apfel aus dem Obstkorb und biss geräuschvoll hinein.
»Ja.« Trish strich sich eine dichte Strähne aus der Stirn und rückte den herzförmigen Diamantanhänger an ihrem Hals zurecht.
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