Bevor der Abend kommt
ihres ungemachten Betts sinken und spürte einen Kopfschmerz, der in ihrem Nacken zu pochen begann.
»Ist es Sean?«, flüsterte Julia.
»Es ist Leigh«, flüsterte Cindy zurück, und Julia verdrehte enttäuscht die Augen Richtung Fenster zum Garten. Draußen erweckte die Sonne an diesem schönen Tag Ende August die Illusion von Ruhe und Frieden.
»Warum flüsterst du?«, fragte Cindys Schwester. »Du bist doch nicht krank, oder?«
»Mir geht es gut. Und dir? Du rufst reichlich früh an.«
»Früh für dich vielleicht. Ich bin schon seit sechs auf den Beinen.«
Nun war es an Cindy, die Augen zu verdrehen. Leigh hatte die Rivalität zwischen Geschwistern zu einer wahren Kunstform entwickelt. Wenn Cindy seit sieben Uhr wach war, war Leigh schon seit fünf auf; wenn Cindy Halsschmerzen hatte, hatte Leigh Halsschmerzen und Fieber; wenn Cindy an einem Tag eine Million Dinge zu erledigen hatte, waren es bei Leigh eine Million und eins .
»Diese Hochzeit bringt mich noch ins Grab«, seufzte Leigh. »Du hast ja keine Ahnung, wie viel Planung eine Hochzeit von dieser Größe erfordert. Keine Ahnung.«
»Ich dachte, alles wäre so gut wie geregelt.« Cindy wusste, dass Leigh die Hochzeit ihrer Tochter plante, seit Bianca fünf war. »Gibt es ein Problem?«
»Unsere Mutter macht mich vollkommen wahnsinnig.«
Cindy spürte, wie sich ihre Kopfschmerzen rapide über Hinterkopf und Stirn bis zur Nasenwurzel ausbreiteten. Sie versuchte, sich ihre drei Jahre jüngere, sechs Zentimeter kleinere und gut zehn Pfund schwerere Schwester vorzustellen, konnte sich jedoch nicht mehr an ihre Haarfarbe erinnern. In der vergangenen Woche war es ein dunkles Kastanienbraun gewesen, in der Woche davor ein beunruhigendes Karottenrot.
»Was hat sie jetzt wieder gemacht?«, fragte Cindy widerwillig.
»Ihr Kleid gefällt ihr nicht.«
»Dann nimm ein anderes.«
»Dafür ist es zu spät. Das verdammte Teil ist schon genäht. Heute Nachmittag ist die Anprobe. Du musst unbedingt kommen.«
»Ich?«
»Du musst sie davon überzeugen, dass das Kleid fantastisch aussieht. Dir wird sie glauben. Außerdem willst du doch bestimmt Heather und Julia in ihren Kleidern sehen.«
Cindys Kopf schnellte in Julias Richtung, die immer noch in der Tür stand. »Heather und Julia haben heute Nachmittag auch eine Anprobe?«
»Kommt nicht in Frage!«, rief Julia. »Ich geh da nicht hin. Ich hasse dieses blöde Kleid.«
»Um vier Uhr. Und sie dürfen sich auf keinen Fall verspäten«, fuhr Leigh fort, ohne etwas von Julias Gezeter mitzubekommen.
»Ich trage dieses scheußliche lila Kleid auf keinen Fall«, setzte Julia neu an und begann, vor der offenen Tür auf und ab zu laufen. »Darin sehe ich aus wie eine riesige Weintraube.«
»Die Mädchen werden da sein«, erklärte Cindy mit Nachdruck und beobachtete, wie ihre Tochter die Arme in die Luft warf. »Aber ich kriege gerade ziemlich üble Kopfschmerzen.«
»Kopfschmerzen? Ich bitte dich, ich habe jetzt seit zwei Tagen
Migräne. Außerdem habe ich zig Dinge zu erledigen. Wir sehen uns dann um vier.«
»Ich geh da nicht hin«, sagte Julia, als Cindy aufgelegt hatte.
»Du musst. Du bist eine Brautjungfer.«
»Ich hab zu tun.«
»Sie ist meine Schwester.«
»Dann zieh du doch das verdammte Kleid an.«
»Julia …«
»Mutter …«
Julia machte auf dem Absatz kehrt, verschwand im Bad am Ende des Flurs und knallte die Tür hinter sich zu.
(Rückblende: Julia, als pummeliges Kleinkind mit Shirley-Temple-Locken, die ihre sommersprossigen Eichhörnchen-Bäckchen rahmen, schmiegt sich an den Bauch der schwangeren Cindy, die ihr eine Gutenacht-Geschichte vorliest; Julia im Alter von neun, die stolz ihren Fiberglasgips präsentiert, nachdem sie sich bei einem Sturz vom Fahrrad beide Arme gebrochen hat; Julia mit dreizehn, schon fast einen Kopf größer als ihre Mutter, die sich trotzig weigert, sich bei ihrer Schwester dafür zu entschuldigen, dass sie sie beleidigt hat; Julia im darauf folgenden Jahr, wie sie ihre Sachen in einen neuen Louis-Vuitton-Koffer packt, den ihr Vater ihr gekauft hat, ihn zu seinem vor dem Haus wartenden BMW trägt und ihre Kindheit – und ihre Mutter – hinter sich lässt.)
Später sollte Cindy sich fragen, ob diese Bilder eine Vorahnung der drohenden Katastrophe gewesen waren, des Unglücks, das im Begriff war zuzuschlagen, ob sie in irgendeiner Weise den Verdacht hatte, dass das Bild von Julia, die hinter der zuschlagenden Badezimmertür verschwand, das Letzte sein würde,
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