Bevor ich sterbe
rein, direkt auf mein Bett zu.
»Hoffentlich stirbst du, während ich in der Schule bin!«, zischt er. »Und hoffentlich tut es verdammt weh! Und hoffentlich begraben sie dich an irgend’nem scheußlichen Ort, zum Beispiel im Fischladen oder beim Zahnarzt!«
Tschüss, kleiner Bruder, denke ich. Leb wohl, leb wohl.
Dad wird in Morgenmantel und Hausschuhen in der unaufgeräumten Küche rumstehen, unrasiert, und sich die Augen reiben, als wäre er überrascht, auf einmal allein zurückzubleiben. In den letzten paar Wochen hat er ein kleines Morgenritual entwickelt. Wenn Cal weg ist, macht er sich einen Kaffee, dann räumt er den Küchentisch ab, hält das Geschirr kurz unter flie ßendes Wasser und stellt die Spülmaschine an. Das dauert so etwa zwanzig Minuten. Danach kommt er an und fragt mich, ob ich gut geschlafen habe, ob ich hungrig bin und wann ich aufzustehen gedenke. In dieser Reihenfolge.
Wenn ich ihm »nein, nein und nie« geantwortet habe, geht er sich anziehen und dann wieder nach unten an seinen Computer, wo er stundenlang in die Tasten haut und das Netz nach Informationen absucht, wie man mich am Leben erhalten könnte. Ich habe gehört, es gäbe fünf Phasen der Trauerbewältigung, und wenn das stimmt, dann ist er in der ersten stecken geblieben: Nicht-wahrhaben-Wollen und Verleugnung.
Heute klopft er seltsam früh bei mir an. Entweder hat er seinen Kaffee oder das Aufräumen übersprungen. Was ist los? Ich liege sehr still, während er reinkommt, die Tür leise hinter sich zuzieht und die Hausschuhe in die Ecke kickt.
»Rutsch rüber«, sagt er. Er hebt einen Zipfel von meiner Decke an.
»Dad! Was machst du da?«
»Ich komm zu dir ins Bett.«
»Das will ich aber nicht!«
Er legt einen Arm um mich und hält mich damit fest. Seine Knochen sind hart. Seine Socken reiben sich an meinen bloßen Füßen.
»Dad! Geh aus meinem Bett raus!«
»Nein.«
Ich schiebe seinen Arm weg und setze mich auf, um ihn anzusehen. Er riecht nach altem Zigarettenrauch und Bier und sieht älter aus, als ich ihn in Erinnerung hatte. Ich höre auch sein Herz schlagen, was wohl eigentlich etwas zu viel des Guten ist.
»Scheiße, was machst du da?«
»Du redest nie mit mir, Tess.«
»Und da denkst du, das würde helfen?«
Er zuckt die Schultern. »Vielleicht.«
»Wie würde es dir gefallen, wenn ich zu dir ins Bett kriechen würde, während du schläfst?«
»Das hast du früher gemacht, als du klein warst. Du hast gesagt, es wäre ungerecht, dass du allein schlafen musstest. Jede Nacht haben Mum und ich dich in unser Bett gelassen, weil du dich allein gefühlt hast.«
Das kann gar nicht stimmen, weil ich mich nicht daran erinnere. Vielleicht ist er verrückt geworden.
»Also wenn du nicht aus meinem Bett aufstehst, dann muss ich wohl.«
»Gut«, sagt er. »Genau das möchte ich.«
»Und du bleibst einfach da liegen, ja?«
Grinsend kuschelt er sich unter die Bettdecke. »Es ist schön warm und gemütlich.«
Ich habe kaum Kraft in den Beinen. Gestern habe ich wenig gegessen und bin davon offenbar durchsichtig geworden. Ich halte mich am Bettpfosten fest, humple zum Fenster und schaue
raus. Es ist noch früh: Der Mond zieht sich in einen blassgrauen Himmel zurück.
Dad sagt: »Du hast dich länger nicht mit Zoey getroffen.«
»Stimmt.«
»Was ist in der einen Nacht passiert, als ihr tanzen wart? Habt ihr beiden euch verkracht?«
Unten im Garten sieht Cals orangefarbener Fußball im Gras wie ein Planet aus, aus dem die Luft raus ist, und nebenan ist dieser Junge wieder draußen. Ich presse meine Handflächen gegen die Fensterscheibe. Jeden Morgen macht er da draußen irgendwas – harken oder graben oder rumwursteln. Jetzt gerade hackt er Brombeerranken vom Zaun und wirft sie auf einen Haufen für ein Feuer.
»Hast du mich gehört, Tess?«
»Ja, aber ich ignoriere dich.«
»Überleg dir doch mal, ob du nicht wieder zur Schule gehen möchtest. Dann würdest du ein paar von deinen Freundinnen wiedersehen.«
Ich drehe mich um und sehe ihn an. »Ich habe keine anderen Freundinnen – und um deinem Vorschlag zuvorzukommen, ich will keine neuen finden. Ich hab keinen Bock auf Schaulustige, die mich kennenlernen wollen, um bei meiner Beerdigung Mitleid zu ernten.«
Seufzend zieht er sich die Decke dicht unters Kinn und schüttelt den Kopf über mich. »Du sollst nicht so reden. Zynismus ist nicht gut für dich.«
»Hast du das irgendwo gelesen?«
»Positiv denken stärkt das Immunsystem.«
»Dann ist es
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