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Bevor ich sterbe

Bevor ich sterbe

Titel: Bevor ich sterbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Downham
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wünschen Sie?«
    Ich sage nichts.
    Die Frau fragt: »Gibt es einen Notfall?«
    Ich antworte: »Nein.«
    Sie sagt: »Bestätigen Sie bitte, dass kein Notfall besteht? Bitte geben Sie Ihre Adresse an.«
    Ich verrate ihr, wo Mum wohnt, und bestätige, dass keine Not am Mann ist. Ob Mum jetzt wohl irgendeine Rechnung aufgebrummt kriegt? Hoffentlich.
    Ich wähle die Auskunft und frage nach der Nummer der Samariter. Die wähle ich sehr langsam.
    Eine Frau sagt: »Hallo.« Sie hat eine weiche Stimme, vielleicht irischer Akzent. »Hallo«, wiederholt sie.
    Weil es mir leidtäte, ihre Zeit zu vergeuden, sage ich: »Alles ist ein Haufen Scheiße.«
    Worauf sie einen kleinen glucksenden Laut hinten in der Kehle von sich gibt, der mich an Dad erinnert. Der hat vor sechs Wochen genau das gleiche Geräusch erzeugt, als der Facharzt im Krankenhaus uns fragte, ob wir verstanden, was er uns sagte. Ich weiß noch, wie ich dachte, Dad könnte es unmöglich verstanden haben, weil er zu viel weinte, um richtig hören zu können.
    »Ich bin noch da«, sagt die Frau.
    Ich will es ihr sagen. Ich presse mir den Hörer ans Ohr, denn um über etwas so Wichtiges reden zu können, muss man nah ranrücken.
    Aber ich kann die richtigen Worte nicht finden.
    »Sind Sie noch da?«, fragt sie.
    »Nein«, sage ich und lege auf.

SECHS
    D ad nimmt meine Hand. »Gib mir die Schmerzen«, sagt er.
    Ich liege am Rand eines Krankenhausbettes, die Knie zur Brust gezogen, den Kopf auf einem Kissen. Meine Wirbelsäule liegt parallel zum Bettrand.
    Zwei Ärzte und eine Krankenschwester sind im Zimmer, auch wenn ich sie nicht sehen kann, weil sie hinter mir sind. Die eine Ärztin ist Studentin. Sie sagt kaum etwas, sieht aber bestimmt zu, wie der andere die richtige Stelle auf meinem Rückgrat findet und den Punkt mit einem Stift anzeichnet. Er bereitet meine Haut mit antiseptischer Lösung vor, die sehr kalt ist. Dort, wo er die Nadel einstechen wird, fängt er an und arbeitet sich dann in konzentrischen Kreisen nach außen vor, ehe er meinen Rücken mit Tüchern abdeckt und sich sterile Handschuhe anzieht.
    »Ich werde eine Fünfundzwanzig-Gauge-Kanüle verwenden«, sagt er der Studentin. »Und eine Fünf-Milliliter-Spritze.«
    An der Wand hinter Dads Schulter hängt ein Bild. In dem Krankenhaus werden die Bilder häufig ausgewechselt, das hier habe ich noch nie gesehen. Ich nehme es fest ins Visier. In den letzten vier Jahren habe ich allerlei Ablenkungsmethoden gelernt.
    Auf dem Bild ist später Nachmittag über einem englischen Feld, die Sonne steht tief am Horizont. Ein Mann plagt sich mit einem schweren Pflug ab. Vögel stoßen im Sturzflug herab.
    Dad dreht sich auf seinem Plastikstuhl um, weil er wissen
will, was ich anstarre, lässt meine Hand los und steht auf, um das Bild zu betrachten.
    Am hinteren Ende von dem Acker rennt eine Frau. Mit einer Hand rafft sie ihren Rock, um schneller laufen zu können.
    » Die Große Pest erreicht Eyam« , verkündet Dad. »Was für ein aufmunterndes kleines Bild für ein Krankenhaus!«
    Der Arzt gluckst vor sich hin. »Wussten Sie«, sagt er, »dass es immer noch dreitausend Fälle von Beulenpest jährlich gibt?«
    »Nein«, antwortet Dad, »das ist mir neu.«
    »Ein Glück, dass es Antibiotika gibt, was?«
    Dad setzt sich und schaufelt meine Hand wieder mit seiner auf. »Ein Glück.«
    Hühner stieben auf, wo die Frau rennt, und jetzt bemerke ich erst, dass ihr Blick voller Panik auf den Mann gerichtet ist.
    Die Pest, das große Feuer und der Krieg mit den Holländern, das alles war im Jahr 1666. Ich weiß es noch aus der Schule. Millionen wurden abgekarrt, Leichen in Kalkgruben und anonyme Gräber geworfen. Über dreihundertvierzig Jahre später ist jeder vom Erdboden verschwunden, der das überlebt hat. Von allem, was auf dem Bild zu sehen ist, blieb nur die Sonne übrig. Und die Erde. Bei dem Gedanken komme ich mir klein vor.
    »Kurzer stechender Schmerz kommt gleich«, sagt der Arzt.
    Dad streicht mit dem Daumen über meine Hand, während sich elektrostatische Hitzewellen in meine Knochen bohren. Dabei muss ich an das Wort »ewig« denken, daran, dass es mehr Tote als Lebende gibt, dass wir von ihren Geistern umgeben sind. Das sollte mich trösten, tut es aber nicht.
    »Drück meine Hand«, sagt Dad.
    »Ich will dir nicht wehtun.«
    »Als deine Mutter mit dir in den Wehen lag, hat sie vierzehn Stunden lang meine Hand gehalten, ohne mir einen Finger auszurenken! Du kannst mir unmöglich wehtun, Tess.«

    Es ist

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