Bevor mir der Tod die Augen schließt (Ein-Linnea-Kirkegaard-Krimi) (German Edition)
verlangt wird.«
»Das ist ja widerlich.«
»Ja.«
Linnea wusste nicht, was sie sagen sollte. Tränen stiegen ihr in die Augen. Schon wieder. Sie kämpfte dagegen an, was wiederum drückende Kopfschmerzen zur Folge hatte. Sie starrte in die Luft, bis sie Thors Blick auf sich spürte, und beeilte sich, das Thema zu wechseln.
»Ich habe ein Ticket nach Frankreich gekauft. Nächste Woche fahre ich zu meiner Mutter.«
Sie ignorierte Thors hochgezogene Augenbrauen und fügte schnell hinzu: »Jetzt habe ich doch sowieso Urlaub, und die gestrenge Madame Bissot war so freundlich, mir den Kontakt zu einer pensionierten Krankenschwester zu vermitteln, die Erfahrung mit Demenzkranken hat. Sie wohnt in Fauville, ein wenig außerhalb von Évreux, und hat sich bereit erklärt, dreimal in der Woche nach Mama zu sehen.«
»Das klingt doch perfekt, mein Schatz!«
Thor legte einen Arm um Linnea. Sie ließ ihn gewähren und sich von ihm wärmen, und ausnahmsweise störte sie sich nicht einmal daran, dass er sie »Schatz« genannt hatte.
»Ihre einzige Forderung war, dass ich komme und die beiden miteinander bekannt mache, damit Madame Kirkegaard ihre Anwesenheit akzeptiert. Das ist wohl das Mindeste, was ich tun kann, obwohl ich zugeben muss, dass ich mich nicht unbedingt darauf freue. Ich habe eine solche Angst davor, sie zu sehen. Meine makellose Mutter zu sehen, wie sie auf einmal nichts mehr im Griff hat. So war sie nämlich. Sie wäre nie mit einem zerknitterten Rock oder einem Fleck auf der Bluse in die Öffentlichkeit gegangen. Eine perfekte Erscheinung.«
Linnea seufzte und sah über den See, wo das Eis weit draußen ganz allmählich zu tauen begann. In Ufernähe liefen aber immer noch einige Kinder Schlittschuh.
»Vor einiger Zeit habe ich mir eingeredet, dass ich sie ihr zuliebe nicht besuchen wollte. Weil sie nicht wollen würde, dass ich sie so sehe. Aber ich weiß, dass das eine Ausrede ist. Ich kann nicht so tun, als wäre sie nicht meine Mutter.«
Thors Blick flackerte, als sie das sagte. Sein Handy klingelte immer beharrlicher, und er schielte auf das Display und machte eine entschuldigende Miene, ehe er sich meldete. Zu dem kurzen Gespräch trug er lediglich mit ein paar gedämpften Ausrufen bei, und dann war er auch schon aufgesprungen. Er drehte sich um.
»Sie haben sie gefunden!«, sagte er. »Sie haben Anisa gefunden.«
Und mit diesen Worten sprintete er los.
54
E in loyaler Verräter.«
Konnte man das wirklich sagen, oder war es eine klassische Contradictio in adiecto? Warwick dachte über die Worte nach. Es klang richtig, und in sich widersprüchlich oder nicht, so hatte er doch das Gefühl, dass dieser Ausdruck genau auf ihn zutraf. Ein loyaler Verräter. Ein Teil des Systems, aber nicht um jeden Preis.
Warwick sah hinaus auf den Wilders Kanal, wo das Eis trotz des Tauwetters der letzten Tage noch immer die Boote einschloss, die im Wasser überwintern durften. Auf einigen von ihnen regte sich etwas, alte Männer, die kleinere Reparaturen durchführten oder ihr Boot vielleicht auch einfach nur nutzten, um in Ruhe ein Bier zu trinken. Davon abgesehen, war es ruhig in Christianshavn, und er war zufrieden, dass er sich mit dem Havnebus auf die andere Seite der Hafenrinne hatte fahren lassen – zum Restaurant Kanalen. Erst hatte er überlegt, im Lumskebugten zu essen, wie er es oft tat, wenn er über etwas nachdenken musste. Aber in Anbetracht der Tatsache, dass die Esplanaden nur einen Foie-gras-Wurf vom Kastellet entfernt lag und deshalb vom Personal des Abschirmdienstes und dem Stab des Oberbefehlshabers gern besucht wurde, schien es nicht gerade der geeignete Ort, um seine Loyalität im Dienst abzuwägen.
»Sind Sie bereit für den Hauptgang?«
Warwick nickte in Richtung des jungen Kellners, der gerade den Teller mit den Resten des hausgemachten Apfelherings abräumte.
Nora Levitan hatte ihn unmissverständlich dazu aufgefordert, seine Hand über eine Waffenhändlerin und Mörderin zu halten, weil es einem höheren Zweck diente. Er sollte fünf Morde und Zehntausende, vielleicht sogar Hunderttausende anonyme Opfer vertuschen. Das war kein reiner Zynismus, und im Grunde genommen stimmte er dieser Rücksichtnahme auch zu. Denn wenn die Wahrheit ans Licht käme, würde das allen schaden, vielleicht sogar mehr schaden als nutzen. Aber sollte man wirklich alles akzeptieren? Ließen sich die Moralbegriffe in solchem Maß verbiegen und ausdehnen? Diese Überlegungen plagten ihn seit der Besprechung
Weitere Kostenlose Bücher