Bewegt Euch
sich langsam wieder nach vorn. Wer jemals über Kilometer in einem solchen Kreisel fuhr, der weiß, warum Graugänse glücklich sind. Das funktionierende Kollektiv ist stärker als der Einzelne, auch ästhetisch.
Mit der Zeit wuchs unser Team. Klaus, Jan und Detlef kamen dazu. Wir durchmaßen Oberbayern, trauten uns an den Rand der Alpen, schmiedeten wilde Pläne für Etappenfahrten. Zum ersten Mal bekam ich eine Ahnung von der integrativen Kraft gemeinsamen Bewegens ohne Siegabsicht. Mochten wir nach Alter, Status, Einkommen sehr verschieden sein – in unseren bunten Hemden waren wir gleich. Wir tranken aus einer Flasche, wir verfluchten und lobten einander.
So ähnlich muss sich Karl Marx den Kommunismus vorgestellt haben, als fröhliches, solidarisches, verschwitztes und sehr unmittelbares Miteinander, das Gegenteil von Alltag, Stumpfsinn und Pflichterfüllung. Wir waren eins mit uns, mit unseren Maschinen, mit der Natur, wir spürten die schmerzenden Beine, die Regentropfen, die uns wie Schrot trafen, und das Glück von Dusche und Belohnungsbier. »Mann, was sind wir bescheuert«, hat einer gesagt. Und dann haben alle gelacht.
Mindestens so emsig wie auf dem Rad waren wir beim Ver zehr von Hefeweizen, schon wegen der Elektrolyte. Es war eines Frühjahrsmorgens um halb zwei, als wir am Tresen des Heppel&Ettlich in der Münchner Kaiserstraße über einen neuen Sport philosophierten, der uns Freizeitathleten mächtig imponierte: Triathlon. Das einstige Freak-Festival auf Hawaii war binnen weniger Jahre zu einem Wettkampf von Weltrang geworden: 3,8 Kilometer Ozeanschwimmen, 180 Kilometer Rad und am Ende ein Marathon – geiler Irrsinn.
Dave Scott hatte fünfmal gewonnen auf Hawaii. Er, Mark Allen, Scott Molina und Scott Tinley, das waren die »Big Four« – die vier Könige der Ausdauer-Athleten. Die Deutschen Wolfgang Dittrich und Jürgen Zäck kamen den Amerikanern jedoch immer näher.
»Dieses Jahr mache ich auch einen Triathlon«, sagte einer aus der bierseligen Runde, und ich will nicht ausschließen, dass ich es war. Ungläubiges Staunen, abschätziges Gelächter. Drei Runden Weizen später war der Schwur vollzogen: Klaus, Jan, Detlef und ich würden in diesem Sommer um die kleine Krone kämpfen, beim Grünwalder Burgtriathlon, zum Glück nur eine olympische Distanz, also etwa ein Viertel von Hawaii. Keiner von uns konnte ordentlich schwimmen. Wer gut auf dem Rad unterwegs war, lief dafür schlecht und umgekehrt. Der Ausgang war völlig offen.
Interessant, was so ein Wettbewerb aus Menschen macht. Aus Sportsfreunden wurden plötzlich Rivalen. Zwar saßen wir, meist am Wochenende, gemeinsam auf dem Rad. Aber den Rest der Woche trainierte jeder für sich. »Na, mal wieder gelaufen?«, fragten wir uns mit heimtückischer Anteilnahme. »Och nö«, lautete die Standardantwort, auch wenn derjenige gerade erst von einer geheimen Runde durch den Englischen Garten zurückgekehrt war. Um meine Schwimmschwäche zu bekämpfen, zwang ich mich tatsächlich mehrmals morgens ins Ungererbad. Mein Stolz über das frühe Aufstehen schwand sofort, als ich durch die Büsche sah, wie Detlef und Jan bereits ihre Bahnen zogen. Manchmal kraulten sie sogar ein paar Meter. Mit meinem wilhelminischen Brustzug würde ich nicht den Hauch einer Chance haben.
Bis zum Wettkampf hatte ich jedoch einen Vorsprung herausgearbeitet. Zunächst hatte ich die Ausschreibung akribisch studiert und dort erfahren, dass Neoprenanzüge erlaubt waren. Ein Bekannter war Surfer und besaß tatsächlich eine Gummipelle in etwa meiner Größe. Am Start glänzte ich mit Materialvorteil. Das Wasser im Deininger Weiher war saukalt. Obgleich die Schwimmstrecke mit Rücksicht auf die Badehosenträger verkürzt worden war, brachte mir der Auftrieb des Neoprens wertvolle Sekunden, zudem stieg ich nicht, wie die Rivalen, tiefgefroren aus dem Moorsee. Etwa auf der halben Strecke hat mein Hirn abgeschaltet, nur der Wille bewegte mich weiter. Mir fehlt jede Erinnerung.
Nur eine einzige Sekunde hat sich eingegraben in jede meiner Zellen. Es war dieser Moment, als ich durchs Ziel taumelte, direkt in die Arme von Michael Wedegärtner, Reporter von Radio Gong. Auf seine Frage, wie ich mich denn fühlte, stammelte ich nur »Geil … geil … einfach geil.« Dann grinste ich dümmlich und fing im Davonstolpern hysterisch an zu heulen. Ich suchte mir eine stille Ecke hinter einem Dixi Klo. Wein- und Wadenkrämpfe wechselten sich nicht ab, sondern durchschossen mich
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