Bewegt Euch
interpretiert wissen. Nachts wachte er gelegentlich von »irrem Herzrasen« auf, Infarktangst trieb ihn um. Routiniert im Selbstbetrug floh Fischer in schlichte Kanzler-Weisheiten: Gewicht, dozierte er, habe nur, »wer auch Gewicht hat«. Der einstige Häuserkämpfer wollte nicht wahrhaben, wie der Bonner Alltag ihn schleichend verformte. 1983, als er als »austrainierter Taxifahrer« in den Bundestag einzog, hatte er noch über die »Alkoholikerversammlung« gegrient. Dreizehn Jahre später musste er selbst »jeden Morgen den Alkoholnebel vertreiben«, der über seinem Kopfkissen stand. Die täglichen Momente der Müdigkeit überspielte er, wie alle anderen auch, mit Sätzen aus dem Rhetorik-Baukasten.
Es waren nicht nur Wunsch nach Information und schlichte Geselligkeit, die den Narziss in jede Kungelrunde, zu jedem Dinner und nachher noch in die Kneipe zogen; es war die Sucht, hofiert zu werden, und manchmal die Angst, dass sich eine Intrige oder etwas ähnlich Wichtiges ereignen könnte, ohne dass er davon erfuhr. Dass ihn seine engste Umgebung gehetzt, selbstherrlich und fett fand, nahm er nicht wahr. Er nannte Kanzler Kohl »drei Zentner fleischgewordene Vergangenheit«, obschon er davon selbst nicht mehr allzu weit entfernt war.
Da schlug ihm ohne Vorwarnung »dieser riesige Stein auf den Kopf«. Nach dreizehn Jahren kündigte ihm seine um siebzehn Jahre jüngere Gattin Claudia die Ehe. Fischer, von sich grenzenlos überzeugt, war plötzlich verlassen, verletzt, verzweifelt. Die private Katastrophe brachte auch den Politiker Fischer ins Schlingern. Schnell war dem Radikalmenschen klar, dass es nur zwei Möglichkeiten gab: Entweder würde er sich vor Selbstmitleid um den Verstand saufen. Oder er würde sein Leben auf den Kopf stellen.
Wie gewohnt entschied sich Fischer für Revolution, diesmal gegen die Übermacht der Bonner Gewohnheiten. Ohne Rücksicht auf Informationslücken, gesellschaftliche Pflichten und liebgewonnene Rituale verweigerte er sich ab sofort dem Trink- und Tratsch-Betrieb. Zugleich reduzierte er seine Termine, um »in Ruhe nachzudenken«. Natürlich hatte sich der Polit-Maniac Fischer nicht grundlegend geändert. Aber er hatte seine Obses sionen neu geordnet. Er war maßlos wie früher, nur eben maßlos asketisch, maßlos fitnesssüchtig und maßlos anfällig für Kitsch.
Denn um die Krise zu bewältigen, besann sich der Metzgersohn, der als Schüler wilde Radrennen fuhr, auf jene einfachen, ehrlichen und unkomplizierten Dinge, die ihm schon früher viel bedeuteten: Muskeln fürs Ego, Muße zum Grübeln, Musik für die Seele.
Joschka Fischer ist neben Reiner »Iron-Calli« Calmund der begnadetste Sportdarsteller der Republik. Sein langer Lauf zu sich selbst, die Marathons in Hamburg im Wahljahr 1998, in New York (1999) und Berlin (2000) schufen den dynamischen Beat, der den Start der rot-grünen Regierung unterlegte.
Als Journalist verfolgte ich die Verwandlung des Herrn F. nicht ohne Amüsement. Ich hatte Familie, Beruf und kaum noch Zeit für den Sport. Hier und da ein Läufchen, ein schneller früher Morgen im Freibad, eine seltene Ausfahrt mit dem Rad. Der Triumph beim Grünwalder Triathlon war sechs Jahre alt. Eines Tages würde ich noch mal angreifen. Nur jetzt gerade nicht. Für eine Runde Laufen mit dem dicken Fischer reichte es aber allemal.
Ein paar Mal trottete ich ergeben neben ihm her. Fischer umgab sich gern mit Menschen, die seinen Monologen klaglos lauschten. Kein Problem. Tagträumen konnte ich schon immer gut. Mit dem leisen Wellenschlag des Rheins entstand ein Klangteppich, der nicht weiter störte. Ich war 15 Jahre jünger, fühlte mich als Vertreter des Nachrichtenmagazins ebenso bedeutend wie unsicher und wunderte mich über die gnadenlose Offenheit, mit der hier ein Politiker über seine Schwächen und Krisen sprach. Ich hatte durchaus Respekt für seinen Beruf und reichlich Spottfreude für einen, der Durchschnittsleistungen in gewaltige Heldentaten umdeutete. So rätselhaft würde ich mich bestimmt nicht verhalten, erreichte ich je dieses biblische Alter. Warum hatte er eine Beziehung gerockt? Wieso brauchte er für jede Trockenpflaume Publikum? Was richtet die Politik mit Menschen an? Und warum wollte dieser Spinner jeden Tag laufen, laufen, laufen? So wollte ich nie werden.
Kaum fünf Jahre später hatte ich vieles verstanden. Die Drama-Queen der deutschen Politik hatte öffentlich ausgelebt, was viele Männer erwischt – eine fette Sinnkrise. Wer bin ich?
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