Bewegungswissenschaft
verändernden gesellschaftlichen, physikalischen, organismischen und nichtnormativen Faktoren resultiert ( vgl. Abb. 66 ). Das charakteristische Hauptmerkmal der „aktiven“ Umwelt stellt die Mitgestaltung der Ontogenese dar. Den entscheidenden Anstoß, der Analyse der lebenslangen Entwicklung und der vielschichtigen Einflussfaktoren größere Aufmerksamkeit zu schenken, liefert die seit einigen Jahren zu beobachtende bevölkerungsdemografische Verschiebung der Altersverteilung und die hiermit zwangsläufig verbundenen, neuen gesellschaftspolitischen und lebenspraktischen Herausforderungen.
Im Wesentlichen verfolgen kontextualistische Entwicklungskonzepte zwei Forschungsstrategien. Der erste Zugang weitet den Gegenstandsbereich auf alle Altersstufen des Lebenslaufs aus. Evaluiert wird, inwieweit die auf einen bestimmten Altersabschnitt zentrierten Entwicklungstheorien auf die gesamte Lebensspanne ausgerichtet werden können. Das theoretische Interesse des zweiten Forschungsansatzes zielt darauf ab, die gesamte Lebensspanne in ihren entwicklungstheoretischen Verflechtungen zu erfassen und neue grundlegende Entwicklungstheorien zu erarbeiten. Einen bedeutsamen Vertreter des zweiten, weiter reichenden Forschungsansatzes stellt die in Abschnitt 3.2.1 vorgestellte Theorie der Entwicklungspsychologie der Lebensspanne von B ALTES dar (1990, 1997).
3.2.1 Entwicklungspsychologie der Lebensspanne – ein neuer Weg?
Die auf die Ausformung psychischer Persönlichkeitsmerkmale zentrierte Theorie der Entwicklungspsychologie der Lebensspanne von B ALTES (1979, 1990, 1997; B RANDTSTÄDTER , 1990; B ALTES ET AL ., 1998, 1999) betrachtet die Ontogenese als einen individuell unterschiedlichen, nichtlinearen Veränderungsprozess. B ALTES geht von einem aktiven Subjekt aus, das in fortlaufenden Interaktionsprozessen mit der „aktiven“ Umwelt neben der eigenen Entwicklung auch die Umwelt mitgestaltet ( vgl. Abb. 66 ). Der in seinem Genbestand festgelegte Organismus umfasst die dem Subjekt zur Verfügung stehenden Handlungspotenziale. Diese legen die Möglichkeiten und die Grenzen des Handelns fest. Die Entwicklung des Menschen zu beeinflussen, stellt das charakteristische Hauptmerkmal der „aktiven“ Umwelt dar. Diese stattet die individuellen ontogenetischen Ergebnisse mit bestimmten Auftrittswahrscheinlichkeiten aus.
Insgesamt stellt die Ontogenese einen Prozess des nicht trennbaren Zusammenwirkens eines sich und die Umwelt verändernden Subjekts und der sich fortlaufend wandelnden Umweltkontexte dar. Verändert sich eine Systemkomponente, führt dies zwangsläufig zu Modifizierungen anderer Systemelemente und des Gesamtsystems. Die Aufrechterhaltung der Entwicklung des Individuums folgt dem Inkongruenzprinzip. Dosierte Abweichungen von der vertrauten Umwelt lösen spezifische Aufmerksamkeitszuwendungen, Wahrnehmungserkundungen und Handlungen aus.
Die in den letzten Jahren mehrfach modifizierte Theorie der Entwicklungspsychologie der Lebensspanne fußt in der aktuellen Fassung auf acht theoretischen Leitlinien (B ALTES ET AL ., 1998, 1999; vgl. Tab. 15 ). Vier logisch eng miteinander verknüpfte Leitorientierungen befassen sich mit dem von der „Empfängnis“ bis zum Lebensende vorhandenen ontogenetischen Veränderungspotenzial des Menschen („lebenslange Entwicklung“) und mit der in der Lebensspanne gleich bleibenden Gewinn-Verlust-Problematik („lebenslange Veränderungen in der Dynamik zwischen Biologie und Kultur“, „lebenslange Veränderungen in der Zuweisung von Ressourcen einzelner Entwicklungsfunktionen“, „Entwicklung als Gewinn-Verlust-Dynamik“). Die fünfte Leitorientierung „Kontextualismus“ betrifft den Sachverhalt, dass jeder Entwicklungsverlauf aus der Wechselwirkung ontogenetischer, nach Alter gestufter, evolutionär-historischer und nichtnormativer Einflussfaktoren resultiert. Die sechste Leitlinie „Entwicklung als Auswahl und selektive Optimierung der adaptiven Kapazität“ kennzeichnet die Ontogenese als einen auf biologischen, psychischen, kulturellen und materialen Einflussfaktoren basierenden Selektionsprozess. Die siebte Leitorientierung „intraindividuelle Plastizität“ thematisiert die Befähigung des Individuums zu verschiedenen Verhaltensformenund Entwicklungsverläufen. Die achte Grundannahme „effektive Koordination von Selektion, Optimierung und Kompensation (SOK-Theorie)“ beschäftigt sich mit der unvollständigen biologisch- und kulturbasierten Architektur der
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