Bewegungswissenschaft
dient dem Menschen lediglich als ein „Lieferant“ vielfältiger Fragen, Problemstellungen und Lösungsvorschläge, welche die konstruktiven Aktivitäten des Subjekts ermöglichen. Die zahlreichen Austauschprozesse des Individuums mit der Umwelt beruhen auf spontanen entdeckenden und strukturierenden Aktivitäten. Inwieweit der Mensch auf die Angebote der Umwelt reagiert, bestimmt das aktuelle Entwicklungsstadium. DieAnregungen und Herausforderungen der Umwelt deutet das Subjekt auf Grund seiner Erfahrungen, Kenntnisse und Interpretationen der exogenen Bedingungen. Neue, die Persönlichkeit ausbildende oder umstrukturierende Erfahrungen erlangt das Individuum über Feedbackprozesse.
Der bekannteste konstruktivistische Entwicklungspsychologe Jean P IAGET (1966, 1970, 1976) beschreibt die Ontogenese als einen individuellen Selbststrukturierungen unterliegenden Prozess, den das Individuum im aktiven Austausch mit der materialen und sozialkulturellen Umwelt gestaltet. Die treibenden Kräfte der Entwicklung bilden zum einen die selbstregulatorischen Tendenzen zur Wahrung des Gleichgewichts zwischen dem Körperinneren und den externen Strukturen ( Äquilibration ), zum anderen die Neigung zur Ausbildung höherer Gleichgewichtszustände.
Die Adaptation an die Umwelt erfolgt über zwei simultan verlaufende Mechanismen: die Anpassungen des Verhaltens und der Handlungsmöglichkeiten des Individuums an die Umwelterfordernisse ( Akkommodation ) einerseits und die subjektgeleiteten Änderungen und Anpassungen der Umwelt an die Bedürfnisse und Handlungsmöglichkeiten des Individuums ( Assimilation ) andererseits. Assimilationen können nur dann erfolgreich sein, wenn sie den Umweltbedingungen nicht zuwiderlaufen. Daher ist eine ständige Akkommodation notwendig.
Die kognitive Entwicklung basiert nach P IAGET sowohl auf den komplizierten Wechselbeziehungen zwischen Reifung (Nerven-/Hormonsystem), Übung und Erfahrung als auch auf dem nicht zu unterschätzenden Ausprägungsniveau der Motorik. Unter konstruktivistischem Blickwinkel lassen sich verschiedene, qualitativ aufeinander aufbauende altersbezogene kognitive Entwicklungsstufen abgrenzen. Die Zuordnung des kalendarischen Alters zu einer bestimmten Entwicklungsphase fasst P IAGET nicht als unverrückbar, sondern als eine Annäherung auf.
In der Sportwissenschaft greifen die piagetische Phasentheorie vor allem S CHERLER (1975), F UNKE (1979), D IETTRICH (1981), F RANKFURTER A RBEITSGRUPPE (1982) und Z IMMER (1996) im Rahmen der allgemeinen Bewegungsentwicklung, der vorschulischen Spiel- und Bewegungserziehung und in empirischen Studien zur Motorik und Persönlichkeitsentwicklung bei Kindern im Vorschulkindalter auf. Die von den Autoren praktizierte 1:1-Übertragung auf die motorische Entwicklung erscheint jedoch problematisch, da sich die entwicklungstheoretischen Annahmen von P IAGET vornehmlich auf die kognitive Entwicklung beziehen.
Zusammenfassend hat die Entwicklungstheorie von P IAGET maßgeblich zur „kognitiven Wende“ in der Entwicklungsforschung beigetragen und den Blick für den individuellen,selbststrukturierten, im Austausch mit diversen Umweltfaktoren stehenden Entwicklungsprozess geschärft. Die Stärken konstruktivistischer Entwicklungstheorien liegen in der Akzeptanz der bedeutsamen Rolle der Kognition für die menschliche Ontogenese begründet. Die wesentlichen Schwächen betreffen die unzureichende Spezifizierung interindividueller Unterschiede in der Entwicklungsgeschwindigkeit und den Entwicklungsbedingungen, die Annahme einer universalen Abfolge von Entwicklungsphasen, die Vernachlässigung entwicklungsrelevanter Einflussfaktoren und die geringe empirische Befundlage. Die Gültigkeit der von P IAGET aufgestellten Altersnormen und Richtwerte für das Erreichen bestimmter kognitiver und motorischer Teilleistungen ist nur unter Berücksichtigung einer größeren Variationsbreite als „gesichert“ anzunehmen. Interventionsstudien belegen, dass die Gestaltung der Übungssituation und der individuelle Entwicklungsstand zu bedeutsamen zeitlichen ontogenetischen Verschiebungen führen.
3.2 Wodurch zeichnen sich moderne Entwicklungsperspektiven aus?
Kontextualistische lebensspannenorientierte Entwicklungskonzepte – Ontogenese als Subjekt-Umwelt-Interaktion – gehen davon aus, dass der Mensch seine Umwelt und die eigene Entwicklung lebenslang beeinflusst und dass jeder Entwicklungsverlauf aus den dynamischen Wechselwirkungen zwischen sich ständig
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