Bewegungswissenschaft
kognitive Entwicklung begründet. Damit wird eine von der modernen Entwicklungspsychologie angemahnte Forschungsstrategie verfolgt, die in Zweifel stellt, inwieweit eine einzelne Theorie die Ontogenese in ihrer Gesamtheit und Komplexität erklären kann. Das größte forschungsmethodische Anregungs- und Innovationspotenzial für die Analyse inter- und intraindividueller Entwicklungsunterschiede und der spezifischen Bedeutung verschiedener Entwicklungsfaktoren kommt den Leitsätzen des „Kontextualismus“ und der „intraindividuellen Plastizität“ zu.
Der Kontextualismus erweitert den Forschungsblick dafür, dass Entwicklungsverläufe durch die enge Verbindung komplex interagierender Prädiktorensysteme bestimmt werden. Von besonderer Attraktivität ist das „Drei-Faktoren-Modell“ von B ALTES (1990, 1997). Mit altersbezogenen, evolutionär-historischen (kulturwandelbezogenen) und nichtnormativen Faktoren beschreibt das Modell drei auf dynamischen, biologischen und ökologischen Grunddeterminanten basierende ontogenetische Einflusssysteme, mit denen sich das Individuum im Lebensverlauf auseinander setzen muss ( vgl. Abb. 67 ).
Abb. 67: Drei-Faktoren-Modell der Entwicklungspsychologie der Lebensspanne (mod. nach B ALTES , 1990, S. 16)
Der altersbezogene Prädiktorenbereich umfasst biologische und umweltbezogene Einflüsse, die zu vorhersagbaren Veränderungssequenzen führen. Altersnormierende Prozesse umfassen einerseits endogene Bedingungen wie lebenslang wirksame, genetisch-biologische Entwicklungsregulative, die in gewissen Grenzen eine variable Altersbindung zeigen. Andererseits wirken auf die Ontogenese exogene Anforderungen der physikalischen und sozialkulturellen Umwelt (Kap. 4.1).
Evolutionär-historische Faktoren zeigen eine feste Bindung an geschichtliche Zeitdimensionen und kulturwandelbezogene Einflüsse wie langfristige, epochalem historischen Wandel unterliegende Wertorientierungen und Wissensbestände oder den periodenspezifischen historischen Wandel von Werten (z. B. politische, technologische Umwälzungen, Zeittrends; Kap. 4.2).
Keine auffälligen Beziehungen zu altersgebundenen und historischen Faktoren weisen die für die individuelle Lebensgeschichte bedeutsamen nichtnormativen Einflüsse auf (z. B. Veränderung des Gesundheitsstatus, Tod nahe stehender Menschen; Kap. 4.3).
Die inhaltliche Abgrenzung einzelner Prädiktorfaktoren stellt sich in Teilbereichen sicherlich als problembehaftet dar. Beispielsweise werden altersbezogene Entwicklungsfaktoren in hohem Maße in evolutionär-historische Prozesse eingebettet. Des Weiteren wirken altersbezogene, evolutionär-historische und nichtnormative Faktoren zu verschiedenen Zeiten im Lebenslauf sehr unterschiedlich auf die Ontogenese ein. Altersbezogene Faktoren sind in der Kindheit und im Alter besonders stark, im frühen und mittleren Erwachsenenalter eher schwach ausgeprägt. Evolutionär-historische Einflüsse wirken während der Adoleszenz auf Grund der altersnormativen, störanfälligen Veränderungen des Individuums besonders auffällig auf die Ontogenese ein. Die Bedeutung nichtnormativer Faktoren nimmt im Lebenslauf generell zu.
Dem Leitsatz der intraindividuellen Plastizität folgend, stellt die Untersuchung möglicher Entwicklungsfaktoren und des Ausmaßes der Veränderbarkeit ontogenetischer Verläufe über die Lebensspanne eine Hauptaufgabe der modernen Entwicklungsforschung dar. In Abgrenzung zum Begriff der Variabilität als interindividuelle Unterschiedlichkeit von Menschen, bezeichnet der Begriff der Plastizität das spezifische Potenzial, das den Menschen, bedingt durch genetische Prädispositionen, in Abhängigkeit vom biologischen Alter befähigt, sich verschiedenen Umweltbedingungen anzupassen. Die individuellen Entwicklungs- und Kapazitätsreserven und die nutzbaren Kompensationen begrenzen dabei den Umfang der intraindividuellen Plastizität der Entwicklung. Als zentrale Auslösefaktoren gelten die Lebensbedingungen, dieindividuellen Erfahrungen, die kognitiven und die motorischen Lern- und Übungsprozesse. Auf der Grundlage des Begriffs der Plastizität können die auf Zufälligkeiten beruhenden intraindividuellen Veränderungen empirisch von systematischen internen und/ oder externen Gesetzmäßigkeiten folgenden intraindividuellen Veränderungen abgegrenzt werden.
Für die Quantifizierung und die Erklärung individueller Entwicklungsreserven stellt die so genannte „Testing-the-Limits“-Methode – das Austesten
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