Bewegungswissenschaft
HORNDIKE (1913) und S KINNER (1953; vgl. Lektion 5 ) geprägten exogenistischen Phasenkonzeptionen – Ontogenese als Sozialisation – sehen die Hauptverantwortlichkeit für die interindividuellen Entwicklungsunterschiede in den physikalisch-chemischen und zeit- und kulturabhängigen sozialen Umweltbedingungen begründet, während der Genetik eine eher randständige Rolle zukommt. In Übereinstimmung mit organismischen Entwicklungsperspektiven wird der Mensch als ein passives Wesen angesehen, das auf die aktive Umwelt reagiert ( vgl. Abb. 66 ). Die Umweltbedingungen rufen – unabhängig vom qualitativen Niveau, vom Lebensalter und von der individuellen Motivation – bei jedem Menschen die gleichen Effekte hervor. Im Extrem wird der Standpunkt vertreten, dass den passiven, als „Tabula rasa“ geborenen Organismus ausschließlich die vorherrschenden Umweltbedingungen steuern, und dass die Ontogenese nicht zu allen Zeiten in allen Schichten und Kulturen gleichermaßen verläuft.
Die frühe Sportwissenschaft führt die umweltdeterministische Diskussion in erster Linie unter schichtanalytischen Gesichtspunkten. Hiernach variieren die Bewegungsaktivitäten in Abhängigkeit von der Schichtzugehörigkeit und bedingen eine schichtabhängige motorische Entwicklung. Für das Erwachsenenalter liegen eindeutige empirische Belege vor. Demnach betreiben die Angehörigen „höherer“ sozialer Schichten häufiger und über einen längeren Zeitraum Sport. Sie bevorzugen vornehmlich „körperkontaktfreie“ Sportdisziplinen (z. B. Golf, Tennis, Volleyball), während sich die Mitglieder der „unteren“ sozialen Schichten eher körperkontaktbetonten Sportarten wie Boxen, Fußball oder Ringen zuwenden. Des Weiteren erleichtern die in höheren Sozialschichten verbreiteten Wertorientierungen hinsichtlich des Leistungsgedankens, der Selbstständigkeit, der Selbstverantwortung und des Verzichts auf direkte Bedürfnisbefriedigung nachweisbar die Ausübung des Wettkampf- und Spitzensports.
Der Wissensstand für das Kindes- und Jugendalter ist demgegenüber äußerst widersprüchlich. Die empirischen Kenntnisse lassen sich dahingehend zusammenfassen,dass Schichteinflüsse auf Heranwachsende als gering einzustufen sind und vorrangig bei Kindern der untersten Sozialschichten zu auffälligen Beeinträchtigungen der Motorik führen. Entwicklungshemmende oder entwicklungsfördernde Wirkungen weisen V OGT (1978) und Z IMMER (1996) für die materialen Umweltbedingungen (allgemeine Lebensraumbedingungen, Wohnungsgröße, Spielflächen, Spielmaterial usw.), die sozialökonomischen Einflüsse, die familiären Faktoren (Berufstätigkeit der Eltern, Anzahl der Geschwister usw.), die sozialen Einflüsse (Kindergarten, Sportverein usw.) oder den Erziehungsstil nach.
Neben den für organismische Entwicklungstheorien geäußerten Zweifeln an der alleinigen Ausrichtung auf die Entwicklungsphasen der Heranwachsenden, der Unveränderbarkeit und der Universalität der Ontogenese sind für die umweltdeterministische Sichtweise weitere spezifische Kritikpunkte von Bedeutung. Die empirische Befundlage zum Einfluss exogener Bedingungsfaktoren auf die motorische Entwicklung stellt sich ausgesprochen uneinheitlich dar. Physikalisch-chemische, sozialkulturelle und historische Einflussfaktoren stellen unverkennbar bedeutsame Entwicklungsvariablen dar; die spezifische Einflussnahme und das komplexe Zusammenspiel exogener Faktoren werden jedoch nur ansatzweise erforscht. Der Entwicklungsverlauf kann zwar durch Umweltfaktoren nachweisbar erheblich modifiziert, auf Grund bestimmter genetischer Determinanten aber nicht beliebig manipuliert werden. Allein aus den korrelationsanalytischen Befunden der Sozialforschung über die Zusammenhänge zwischen sportbezogenen Persönlichkeitsmerkmalen und sozialer Schichtzugehörigkeit lassen sich keine Anhaltspunkte darüber ableiten, wie schichttypische Variationen entstehen.
3.1.3 Welchen Leitideen folgen konstruktivistische Entwicklungskonzepte?
Konstruktivistische Entwicklungstheorien – Ontogenese als Einsicht und Erfahrung – stellen den Menschen als ein autarkes, selbstreflektierendes Wesen dar, das sich im spontan entdeckenden Austausch mit der weit gehend „passiven“ Umwelt entwickelt ( vgl. Abb. 66 ). Menschliche Aktivitäten werden entweder als verändernd oder als erkennend (konstruktiv) eingestuft. Die Entwicklung verläuft als ein selbstorganisierter Prozess der Adaptation und Selbstkonstruktion. Die Umwelt
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