Bewegungswissenschaft
der Leistungsmöglichkeiten von Individuen (S CHMIDT , 1971) – neuartige, richtungsweisende Analyseverfahren bereit. Angenommen wird zum einen, dass systematische Entwicklungsvariationen bedeutsame Rückschlüsse auf das individuelle Entwicklungspotenzial ermöglichen; zum anderen treten entwicklungsbedingte Unterschiede desto stärker hervor, je näher das Subjekt an seine Leistungsgrenze heranreicht.
Auf den Bereich des Sports übertragen, wird der Ausprägungsgrad der Plastizität nur an der genetisch determinierten Grenze der sportmotorischen Lernfähigkeit und der Trainierbarkeit deutlich sichtbar. R OTH und W OLLNY (1999a) unterscheiden zwischen fertigkeitsbezogenen Lern- und Optimierungsuntersuchungen einerseits und fähigkeitsorientierten Trainingsstudien andererseits. Während Bewegungswissenschaftler im ersten Fall mit kurz- bzw. mittelfristig angelegten Treatmentdurchführungen arbeiten können, benötigt die Abschätzung des maximalen Plastizitätspotentials im Bereich der motorischen Basisfähigkeiten ein langjähriges Training.
4 Welche Faktoren beeinflussen die motorische Entwicklung?
Für die theoriegeleitete Entwicklungsforschung ist es von zentralem Interesse, welche potenziellen Faktoren die motorische Ontogenese beeinflussen und in welchen Wechselbeziehungen die einzelnen Variablen zueinander stehen. Aus Gründen der geringen Differenziertheit der Entwicklungspsychologie und aus forschungsökonomischen Erwägungen bleiben komplexere, nur mit aufwändigen Untersuchungsplänen zu erschließende Prädiktorvariablen wie die kognitiven und emotionalen Einflüsse, die Bewegungsbiografie, das koordinative und informationelle Fähigkeitsniveau, die evolutionär-historischen Einflusskomponenten oder die nichtnormativen Lebensereignisse bis auf wenige Ausnahmen ausgespart (z. B. O KONEK , 1996; C ONZELMANN , 1997; V OELCKER & W IERTZ , 2002; W OLLNY , 2002). Ebenfalls unberücksichtigt bleiben die komplizierten Ursache-Konsequenz-Beziehungen zwischen einzelnen Entwicklungsfaktoren.
Im Hinblick auf die Frage, welche Bedingungsfaktoren gelten als hinreichend für das Auftreten motorischer Entwicklungsphänomene, zeigen experimentelle Studien auf, wie Verhaltensveränderungen kurzfristig hervorgerufen werden. Sie belegen aber nicht, dass Veränderungen nur auf diese Art zu Stande kommen. Als wahrscheinlicher gilt die Annahme, dass Menschen die „gleichen“ Entwicklungsresultate auf unterschiedliche Art und Weise erwerben. Gleichermaßen problematisch ist die Frage nach den notwendigen Einflussfaktoren der motorischen Entwicklung. Diese Variablen wären nur dann zuverlässig zu identifizieren, wenn die zu untersuchenden Bedingungen dem Subjekt während seiner Entwicklung vorenthalten werden. Aus ethischen Gründen können empirische Untersuchungen aber nur auf natürliche Deprivationen (Mangel, Verlust) zurückgreifen.
Eine klassische Deprivationsstudie über die Auswirkungen von Bewegungseinschränkungen auf das Laufenlernen von Kleinkindern führten D ENNIS und D ENNIS (1940, in T RAUTNER , 1992) mit zwei Gruppen von Hopi-Indianerkindern durch. Die erste Gruppe (n: 63) wurde nach alter Hopi-Tradition von ihren Müttern von der Geburt bis durchschnittlich zum neunten Lebensmonat (Variationsbreite: 4-14 Monate) auf ein Wickelbrett festgebunden, das die Bewegungsfreiheit der Körperextremitäten stark einschränkt. Das Brett wurde selten herumgetragen oder senkrecht gestellt. Bei der zweiten Gruppe (n: 42) verzichteten die Hopi-Mütter nach Kontakten mit weißen Siedlern auf das Wickelbrett. Der Vergleich der Altersdurchschnittswerte des Laufenlernens der Hopi-Kinder mit (14.98 Monate) und ohne Wickelbrett (15.05 Monate) verweist auf keinen signifikanten Unterschied.
Die nachfolgende Akzentuierung des altersbezogenen, lebenslaufzyklischen Prädiktorensystems (Kap. 4.1) und die im Vergleich eher knappen Kennzeichnungen der evolutionärhistorischen (Kap. 4.2), der nichtnormativen, zufälligen Einflussfaktoren (Kap. 4.3) und der komplexen Beziehungen zwischen den verschiedenen Entwicklungsfaktoren (Kap. 4.4) liegen in der begrenzten theoretischen und empirischen Befundlage begründet.
4.1 Welche Wirkungen altersbezogener Entwicklungsfaktoren sind nachgewiesen?
Im Verlauf der motorischen Entwicklung entfaltet der Mensch vielfältige persönliche Verhaltensmerkmale und Verhaltensweisen, die zu auffälligen interindividuellen psychischen und motorischen Fähigkeits- und Fertigkeitsunterschieden führen.
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