Bewegungswissenschaft
Körperextremität nimmt eine stabile Lage ein, wenn die Gelenkdrehmomente (Produkt von Muskelkraft und Hebelarm) in beiden Richtungen gleiche Werte zeigen. Eine Veränderung der muskulären Längen-Spannungsrelation führt zu einer Gelenkbewegung in Richtung der Muskelgruppe mit der größten elektrischen Erregung (A SATRYAN & F EL ’ DMAN , 1965; R OSENBAUM , 1991).
Wie der Mensch das Masse-Feder-Modell zur Bewegungskontrolle ohne Kenntnis der aktuellen Ausgangslage und der Programmierung der zeitlichen Ablaufmerkmale nutzen kann, veranschaulichen die Abbildungen 24a und b anhand der Koordination des Ellbogengelenks (Scharniergelenk). Die Beugemuskeln (Flexoren) und Streckmuskeln (Extensoren) repräsentieren die beiden Federn. In Abhängigkeit von der jeweiligen Länge und Stärke der Federn ergibt sich eine spezielle Gleichgewichtsposition des Ellbogengelenks. Für die Einnahme einer bestimmten Gelenkstellung muss das Bewegungsprogramm die Federlängen und die Federstärken derart einstellen, dass sich die Masse in der vorgesehenen Gelenkposition im Gleichgewicht befindet.
Abb. 24: Masse-Feder-Modell (mod. nach S CHMIDT , 1988, S. 213)
a ) Skelettmuskeln als nichtlineare physikalische Federn
b ) Einfache Längen-Spannungsdiagramme für die Flexoren und Extensoren bei verschiedenen Ellbogenwinkeln (Der Aktivitätsanstieg der Flexoren verschiebt den Gleichgewichtspunkt von 120° nach 105°.)
Die Masse-Feder-Hypothese stützen Experimente, in denen Versuchspersonen ohne visuelle und sensorische Kontrollmöglichkeiten der oberen Extremität (Deafferentierung) beherrschte Positionierungsbewegungen (z. B. mit einem Gegenstand auf nacheinander aufleuchtende Lämpchen zeigen) bei unvorhersehbarer Veränderung der Ausgangsstellung der Arme oder der Masse des zu bewegenden Gegenstandes dennoch das Ziel exakt erreichen. Unter Zugrundelegung der Impuls-Timing-Idee oder der Bang-Bang-Bewegungssteuerung müssten die Testpersonen die vorgegebenen Zielpunkte deutlich verfehlen (Überblick: W ULF , 1989).
5.2 Wie werden Bewegungsprogramme organisiert?
Die psychologischen und bewegungswissenschaftlichen Vorstellungen über die Organisation motorischer Programme unterschieden sich lange Zeit erheblich voneinander. Das seit Mitte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts favorisierte Programmkonzept, das zwischen einigen wenigen festen Programminvarianten und variablen Programmparametern differenziert ( vgl. Lektion 6, Kap. 3.2 ), ist das Ergebnis eines dreiphasigen Entwicklungsprozesses.
Memory-Drum-Hypothese
Vertreter der Memory-Drum-Hypothese von H ENRY und R OGERS (1960) gehen bis Mitte der 70er Jahre analog der Funktionsweise elektronischer Computer von speziellen Bewegungsprogrammen aus, die alle zeitlichen und räumlichen Details der motorischen Handlung beinhalten. Im Langzeitgedächtnis existieren für die einzelnen Bewegungstechniken und deren Variationen jeweils eigenständige Koordinationsmuster (1:1-Speicherung).
Gegen die Memory-Drum-Hypothese sprechen drei schwerwiegende Argumente. Speichert das Hirn bestimmte Bewegungen als einzelne, eigenständige Bewegungsprogramme, stellt sich trotz der für das Hirn angenommenen enormen Anzahl von 10 11 Neuronen mit 10 15 Verbindungen das Problem der Speicherkapazität. Zweitens belegen kinemetrische und elektromyografische Bewegungsanalysen, dass scheinbar identisch ausgeführte, automatisierte Fertigkeiten wie eine Kaffeetasse greifen oder ein Tennisaufschlag von Versuch zu Versuch hinsichtlich der äußeren und körperinneren Bewegungsmerkmale geringfügig unterschiedliche Ablaufmuster erzeugen, die jeweils eigenständige Bewegungsprogramme voraussetzen (M ÜLLER , 2001). Der hoch geübte Tennisaufschlag der Weltklassetennisspielerin Steffi Graf ist, obwohl er mit einem zuvor ausgeführten Versuch identisch zu sein scheint, in Bezug auf die Fußstellung, die Schlagstärke oder die neuromuskuläre Aktivität im Detail immer etwas verschieden von allen vorausgegangenen Aufschlägen. Gleichzeitig ist derAufschlag aber nicht vollständig neu, da er den vorausgegangenen Versuchen stark ähnelt. Drittens kann die Memory-Drum-Hypothese nicht erklären, wie das Hirn im Verlauf motorischer Lernprozesse neue Bewegungsprogramme erstellt.
Hierarchisch-sequenzielle Bewegungsorganisation
Eine im Einklang mit neurobiologischen Kenntnissen stehende, hierarchisch-sequenzielle Bewegungsorganisation propagieren B ERNSTEIN (1967), K EELE (1968) und D AUGS (1972). Hiernach speichert das
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