Bewegungswissenschaft
wiederum das Neuron 2 aktiviert usw., bis das Neuron 4 erneut das Neuron 1 anregt. Weiterhin vorstellbar ist, dass zwischen dem Neuron 1 und einer den Flexor steuernden Nervenzelle und zwischen dem Neuron 3 und einer den Extensor steuernden Nervenzelle jeweils Synapsen bestehen. Jedes Mal, wenn das Neuron 1 das Neuron 2 aktiviert, wird auch die Nervenzelle zum Extensor erregt. Der gleiche Vorgang vollzieht sich zwischen dem Neuron 3 und der zum Flexor führenden Nervenzelle.
Neuronale Oszillatoren zur Kontrolle des Gehens oder des Laufens könnten durch „höhere“ Instanzen des Zentralnervensystems oder durch das sensorische Feedback der bewegungsausführenden Körperextremitäten koordiniert werden. Komplexe Bewegungsfertigkeiten könnten der Kontrolle mehrerer Oszillatoren unterstehen, deren koordiniertes Zusammenspiel ein übergeordneter Oszillator überwacht ( vgl. Abb. 22 b).
Impuls-Timing-Idee
Die Impuls-Timing-Idee besitzt für die Erklärung der Funktionsweise alltäglicher und sporttypischer Bewegungen eine hohe Plausibilität. Hiernach beinhalten motorische Programme einige wenige abstrakte Zeit- und Kraftinformationen in Form von „Kraftstößen“ (Impulse) an die bewegungsbeteiligte Muskulatur. Bei schnell ausgeführten Wurf-, Schuss- oder Stoßbewegungen, die am Bewegungsendpunkt nicht zur Ruhe kommen müssen, erzeugt für eine kurze Zeit – bis zur Hälfte des Bewegungswegs oder in Abhängigkeit von der Höhe der Reibungskraft auch länger – eine konstante Muskelkraft die Beschleunigung der Körperextremität. Am Ende des Beschleunigungswegs wird die Bewegung entweder durch die natürlichen Reibungskräfte und Trägheitskräfte abgebremst oder durch die Fliehkraft und Schwerkraft zum Ziel geführt. Liegt eine elastische Gegenkraft vor, bremst diese die motorische Handlung ab.
S CHMIDT (1988) und R OTH (1989) veranschaulichen die Impuls-Timing-Idee an der Analogie der „Kinderschaukel“ ( vgl. Abb. 23 ). Hiernach steuert ein einfaches zeitlich-dynamisches Kontrollsystem eine komplexe motorische Handlung. Der die Schaukel in Schwung bringende Vater stellt das Kontrollprogramm dar, das ausschließlich zeitlich abgestimmte Kraftstöße zur Initiierung und Aufrechterhaltung der Schaukelbewegung umfasst. Bei der Berechnung der Kraftstöße berücksichtigt der Vater die physikalischen Gegebenheiten (Trägheitskräfte, Drehmomente, Gravitationseffekte usw.).
Abb. 23: Bewegungsspur und Positionen einer Kinderschaukel als Funktion der Zeit (mod. nach S CHMIDT , 1988, S. 262)
Die Bewegungsbahn der Schaukelbewegung ergibt sich aus den Wechselwirkungen zwischen den Kraft- und Zeitinformationen des Kontrollprogramms und den physikalischen Bedingungen. Die Kinderschaukel erfährt zunächst eine Phase der positiven Beschleunigung (bis Mitte der Bewegungsbahn), gefolgt von einer negativen Beschleunigung (bis zum Umkehrpunkt) und einer ähnlich strukturierten Rückwärtsbewegung.
Bang-Bang-Bewegungssteuerung
Hochautomatisierte unidirektionale Zielbewegungen, die mit maximaler Geschwindigkeit auszuführen sind und unmittelbar am geplanten Bewegungsendpunkt zur Ruhe kommen sollen – wie das Greifen nach einer Kaffeetasse oder die mit äußerster Präzision auszuführenden Schlag- und Trittbewegungen asiatischer Kampfsportler –, unterliegen wahrscheinlich der Bang-Bang-Bewegungssteuerung (M ILSUM , 1966). Das Bewegungsprogramm kodiert nicht Zeit- und Kraftverläufe, sondern Gleichgewichtspunkte (equilibrium points) zwischen der Muskelspannung des Agonisten und des Antagonisten. Diese Kennwerte legen eine bestimmte Muskellänge und damit einen Bewegungsendpunkt eindeutig fest. Die erste Hälfte der motorischen Aktion unterliegt der Impuls-Timing-Steuerung, während die zweite Bewegungshälfte – das Abbremsen – die zusätzliche Krafterzeugung des Antagonisten reguliert.
Masse-Feder-Modell
Das Masse-Feder-Modell (mass-spring-, equilibrium-point-model) geht davon aus, dass unidirektionale Bewegungen nicht über zeitlich koordinierte Kraftstöße, sondernüber die Bewegungsendposition kontrolliert werden. In Analogie zu nichtlinearen physikalischen Federn scheint das Zentralnervensystem die viskoelastische Beschaffenheit der Muskel-, Sehnen- und Gelenkstrukturen zur Vereinfachung der Programminhalte zu nutzen. Nach dieser koordinationstheoretischen Vorstellung ist der Skelettmuskel in gewissen Grenzen dehnbar und kehrt immer wieder zum ursprünglichen Gleichgewichtszustand zurück. Die
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