Bewegungswissenschaft
Zielmotorik. Das Neocerebellum erhält über die absteigenden Pyramidenbahnen die Efferenzkopie des ausgewählten Bewegungsplans. Durch die funktionelle Verschaltung von Paläocerebellum und Neocerebellum kann das motorische Programm an den momentanen Aktivitätszustand der bewegungsausführenden Muskulatur angepasst werden. Das Archicerebellum trägt maßgeblich zur Aufrechterhaltung des Körpergleichgewichts bei.
H ENATSCH (1976a, b), K EELE und S UMMERS (1976) erbringen den Nachweis, dass bei der Aktivierung zielmotorischer Handlungen eine gleichsinnige Programmierung der α- und γ-Motoneurone stattfindet ( α - γ -Koaktivierung) . Hieraus folgt, dass für die jeweils zusammengehörenden Fasern der Pyramidenbahnen und der extrapyramidalen Bahnen ein im Hirn zu lokalisierender gemeinsamer Eingang bestehen muss. Motorische Programme scheinen demnach nicht nur Informationen für die extrafusale Arbeitsmuskulatur zu beinhalten (α-Aktivität), sondern auch spezifische Instruktionen für die intrafusalen Fasern der Muskelspindeln (γ-Aktivität) zur Überwachung der Bewegungsausführung.
Konkret regt das Bewegungsprogramm zur Aussendung supraspinaler Impulse an die α-Motoneurone an, die eine bestimmte Gruppe quer gestreifter Muskelfasern aktivieren ( vgl. Lektion 3, Abb. 12 ). Zur gleichen Zeit veranlasst das γ-System die intrafusalen Fasern der Muskelspindeln zur Kontraktion. Dies führt über die Dehnung der Spindelmittelstücke zu elektrischen Aktionspotenzialen (Ia-Afferenzen), die zum Rückenmark gesendet werden und die ankommenden α-Kommandos modifizieren. Die α- und γ-Impulse bedingen zum einen die Kontraktion der Arbeitsmuskulatur, zum anderen verkürzen sich die Polregionen der Muskelspindeln synchron zur Arbeitsmuskulatur. Hierdurch wird ein Erschlaffen der Muskelspindel vermieden, sodass ihre Messempfindlichkeit auch während der Muskelkontraktion erhalten bleibt.
Das durch die Basalganglien und das Cerebellum an die aktuellen Umweltbedingungen angepasste Bewegungsprogramm gelangt zum primär-motorischen Kortex (Homunculus; vgl. Abb. 20 ). Dieses Hirnareal hat über die Pyramidenbahnen direkte Verbindungen mit den spinalen Neuronen im Rückenmark und über die extrapyramidalen Nervenbahnen indirekte Verbindungen mit dem Hirnstamm. Die Aufgaben des primärmotorischen Kortex umfassen sowohl die Kontrolle der Stützmotorik (Afferenzen) als auch der α- und γ-Motoneurone der Beuge- und Streckmuskulatur. Von den efferenten Bahnen der motorischen Kortexareale zweigen Seitenäste an den Thalamus ab (Efferenzkopie).
Die Transformation der abstrakten Programminformationen in bioelektrische Aktionspotenziale erfolgt in den Schaltstationen derjenigen Windung der Hirnrinde, die vor dem Sulcus centralis liegt. Hier beginnen Neurone, deren Axone (Pyramidenbahnen) über den Hirnstamm [Brücke (Pons), verlängertes Rückenmark (Medulla oblongata)] und das Rückenmark (Medulla spinalis) bis zu den motorischen Einheiten der aktivierten Skelettmuskeln ziehen ( vgl. Abb. 19 und 21).
5 Was besagt die psychologische Programmidee?
Die in der Bewegungswissenschaft des Sports weit verbreitete psychologische Grundannahme, dass der Mensch bei der motorischen Kontrolle auf im Gedächtnis gespeicherte Bewegungsprogramme zurückgreift, die ohne periphere Feedbackmechanismen einfache und komplexe Bewegungen kontrollieren, wird seit Anfang des 20. Jahrhunderts fassettenreich vertreten. Die in der Neurobiologie, der experimentellen Psychologie und der sportwissenschaftlichen Motorikforschung realisierten Experimente zum Nachweis motorischer Programme lassen sich sechs forschungsmethodischen Argumentationslinien zuordnen. Bei kritischer Betrachtung der vorliegenden Einzelresultate stellen diese jedoch nur indirekte Belege für die Existenz und die spezifische Funktionsweise motorischer Programme dar.
Deafferentierungsstudien von L ASHLEY (1917), P ROVINS (1958), T AUB (1976) und K ELSO (1977a, b) belegen, dass der Mensch bei der Deafferentierung der sensorischen Nervenbahnen (lokale Betäubung, Blutdruckmanschetten usw.) schnelle motorische Handlungen (< 200 ms) auch ohne periphere Rückmeldungen exakt mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten oder Krafteinsätzen realisieren kann.
Experimente zur Informationsverarbeitung von S LATER -H AMMEL (1960) verdeutlichen, dass feedbackbasierte Informationsprozesse zu langsam sind, um die zahlreichen Details schneller Bewegungen wie das Klavierspielen, die Schlagtechniken der
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