Beweislast
zufälligen Zusammentreffen im Rehgebirgstal gekommen sei, habe er die Gelegenheit erkannt und Grauer, der offenbar tatsächlich als heimlicher Baustellenprüfer unterwegs gewesen sei, mit dem Auto überfahren. Allerdings müsse der Angeklagte bemerkt haben, dass sein Opfer noch lebte und ihn verraten könnte. »Ketschmar hat angehalten, hat aus dem Kofferraum einen Spanngurt geholt, ist zu dem verletzt am Boden liegenden Grauer zurück und hat ihn erdrosselt.« Wenn man sich als Jurist bis dahin noch unsicher gewesen sei, ob die vorausgegangene Tat bereits als ein Mordversuch oder nur als ein versuchter Totschlag bewertet werden müsse, so bestehe beim Erdrosseln kein Zweifel mehr, dass niedrige Beweggründe vorgelegen seien. »Grauer musste sterben, weil er den Angeklagten an der Autonummer hätte identifizieren können. Der Angeklagte hat also getötet, um eine andere Straftat verdecken zu können. Ein astreiner Mord. Wir können also gleich zwei Mordmerkmale feststellen: aus niederen Beweggründen und zur Verdeckung einer anderen Straftat.«
Ketschmar war nicht mehr in der Lage, zu schreien und aufzuspringen, wie er es noch vor einer halben Stunde im Sinn gehabt hatte. Nein, er war am Ende. Unfassbar. Wie konnte die Justiz in einem zivilisierten Land so vorgehen?
Er konnte Manuels Plädoyer kaum folgen. Emotionslos versuchte sein Schwiegersohn, die Anschuldigungen und Argumente des Staatsanwalts zu zerpflücken und dabei zu entkräften. Er stellte gleich zu Beginn klar, dass Ketschmar einräume, den Bürocontainer angezündet und die Drohbriefe verfasst zu haben. »Das waren die Taten eines verzweifelten Mannes, eines Familienvaters, der nichts weiter wollte als arbeiten. Und das unterscheidet ihn von jenem Klientel, das wir sonst hier in diesem Saal gewohnt sind. Diesem Mann ging es nicht darum, dem Staat auf dem Geldsack zu liegen, ihn auszunehmen und auszunutzen, nein, dieser Mann wollte arbeiten. Und dann war er an jenem 18. November plötzlich zur falschen Zeit am falschen Ort, wie es jedem von uns, ich betone: jedem von uns, wie wir hier sitzen, passieren kann. Sie verbiegen beim Ausparken das Blech des Kotflügels, kommen an einem Ort vorbei, von dem Sie keine Ahnung haben, dass es ein Tatort ist, und als Sie hören, dass dort ein Mensch überfahren wurde, bekommen Sie panische Angst, weil man Ihnen die Sache andichten könnte.«
Manuel machte es gut, dachte Ketschmar und versuchte, aus seinem Plädoyer neue Kraft zu schöpfen. Doch wenn er die Schöffin schräg links neben sich sah, schwand seine Hoffnung. Die Frau kämpfte gegen den Schlaf an. Sie war längst nicht mehr in der Lage, Manuels Argumentation zu folgen. Und auch der andere Schöffe, ganz drüben bei der Protokollführerin, stierte abwesend geradeaus in den Zuhörerbereich. Nur die drei Berufsrichter schienen voll bei der Sache zu sein. Friesenmeiler machte Notizen, Muckenhans ließ den Anwalt nicht aus dem Auge und die junge Beisitzerin lauschte mit gesenktem Blick. Nur diese drei, dachte Ketschmar, waren maßgebend. Und doch mussten sie zumindest einen der beiden Schöffen von ihrer Meinung überzeugen. Aber dies würde einfach sein. Vielleicht lag das Urteil bereits geschrieben hinten im Beratungszimmer in der Schublade. Im Namen des Volkes … lebenslänglich.
»Der Herr Staatsanwalt macht es sich zu einfach, wenn er das DNA-Gutachten als Evangelium nimmt und nur das berücksichtigt, was dazu passt«, fuhr Manuel fort, während der Ankläger mit verschränkten Armen lauschte, ohne eine Miene zu verziehen.
»Alles spricht dafür, dass in diesem Tal da draußen etwas gelaufen ist, das zum Tod des Herrn Grauer geführt hat. Und zwar nicht durch Herrn Ketschmar, sondern durch jemand anderen. Wir haben gestern den Herrn Eckert hier gehabt, der meiner Ansicht nach einen klaren Meineid geschworen hat. Ich bin nämlich davon überzeugt, dass es so war, wie der Angeklagte es schildert: Er war dort, hat in einem gewissen psychischen Ausnahmezustand den Herrn Eckert, der für ihn der Prototyp des arroganten Personalchefs ist, einschüchtern wollen. Denn Herr Ketschmar war zu diesem Zeitpunkt davon überzeugt, dass Eckert für das Verbrechen direkt vor dem Baucontainer verantwortlich war.«
Der Angeklagte nickte heftig, als wolle er die Richter damit auf seine Seite bringen.
»Eckert lässt seine polnische Lebensgefährtin zwei Wochen vor dem Prozess bei den Ketschmars anrufen und dort auf den Anrufbeantworter sprechen, dass Ketschmar die Sache
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