Beweislast
»Und sie kriegen nichts«, bekräftigte er, während der Schöffe rechts außen die Augen verdrehte und mit dem Einschlafen kämpfte. Was kümmerte den auch sein Schicksal? Vielleicht ein Beamter, überkam es Ketschmar, oder Unternehmer. Jedenfalls keiner, der aus allen sozialen Netzen fallen konnte.
»Ihre finanziellen Verhältnisse, Vermögen?«, wollte Muckenhans wissen. Eine Frage, die völlig fehl am Platze war. Wollten sie ihm vollends alles wegnehmen? »Kein Einkommen«, erwiderte er.
»Vermögen? Schulden?«, blieb der Vorsitzende hartnäckig, während Friesenmeiler darauf wartete, etwas notie
ren zu können.
»Ein bisschen was auf der Bank. Schulden keine.«
»Was auf der Bank?«
»Fünfzigtausend, Aktien, gemeinsam mit meiner Frau«, log er. Es war ein bisschen mehr, aber das brauchte hier niemand zu wissen. Bald würde es ohnehin abgeschmolzen sein. Der Staat hatte sich in jüngster Vergangenheit die Gesetze so zurechtgeschmiedet, dass jedes Konto durchleuchtet werden konnte. Und wenn sie ihn einsperrten, dann würden sie Monika früher oder später zum Sozialfall machen. Der Behördenapparat würde nicht ruhen, ehe man sie ruiniert hatte. Bei den Kleinen war dies schließlich einfach, weil überschaubar. Die Beamten verbissen sich freudig in solche Fälle, weil ihnen die Großen viel zu kompliziert und unbequem erschienen. Ketschmar wollte das hinausbrüllen. Doch er würde sich dies für sein ›letztes Wort‹ aufsparen, wenn ihn keiner bremsen konnte, wie ihm Manuel bereits erklärt hatte.
»Noch Fragen zu den Personalien?« Es war Muckenhans’ Stimme, die ihn wieder in die Realität zurückbrachte. Keine Fragen. Dann zu den Vorstrafen. Der Vorsitzende zog aus einem großen Kuvert die Ausdrucke, die vom Bundeszentralregister stammten. »Es gibt eine Eintragung«, stellte er fest, »ein Urteil des Amtsgerichts Ulm aus dem Jahre 1999. Vorsätzliche Körperverletzung. Sechs Monate Freiheitsstrafe, ausgesetzt auf 3 Jahre zur Bewährung.« Muckenhans reichte die Akte an Friesenmeiler weiter, der das Urteil verlesen musste. Demnach hatte Ketschmar damals in höchster Erregung, einen Architekt von einem ein Meter hohen Gerüst auf eine Wiese gestoßen. Das Opfer brach sich das rechte Handgelenk und erlitt erhebliche Prellungen an der rechten Körperseite. Der Amtsrichter attestierte dem Angeklagten ein unbeherrschtes Verhalten.
»Soll dazu noch etwas bemerkt werden?« Muckenhans blickte in die Runde. Nichts. Vermutlich würden alle später darauf zurückkommen.
Jetzt hatte der Psychiater das Wort, ein Mediziner, 2 Jahre jünger als Ketschmar, Chefarzt an einer Fachklinik im Oberschwäbischen. Ketschmar hatte ihn bei einer Exploration kennengelernt, wie in Fachkreisen eine psychiatrische Untersuchung bezeichnet wurde. Dieser eine Mensch, das war ihm rasch bewusst geworden, konnte mit überzeugenden Worten sein Schicksal besiegeln. Allein schon die Feststellung, der psychische Befund sei unauffällig, steuerte in diese Richtung. Trotz der gelegentlichen Schwindelzustände, über die Ketschmar geklagt habe, fänden sich keine hirnorganischen Störungen – weder beim EEG, noch im Computertomografen. Alles im grünen Bereich. Die Merkfähigkeit und das Denken nicht beeinträchtigt. Aus forensisch-psychiatrischer Sicht also nichts, was außergewöhnlich wäre. Stattdessen aber lasse sich eine erhöhte Reizbarkeit feststellen, die ihn sehr schnell in einen hochgradigen Affektzustand versetzen könne, was wohl seinen Ursprung in der Kinder- und Jugendzeit habe. Ketschmar sei Einzelgänger gewesen, habe zu wenig Zuneigung erfahren und sei oftmals mit seiner Situation und der Umwelt unzufrieden gewesen. Dies habe sich zwar im Berufsleben geändert, doch sei auch dabei seine ausgeprägte Neigung zu Egoismus und Jähzorn erkennbar geblieben, wieja die Vorstrafe beweise. Doch auch wenn dies nun im vorliegenden Fall als Folge von Demütigungen erneut zum Ausbruch gekommen sei, könne daraus nicht auf eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung geschlossen werden, argumentierte der Sachverständige und gelangte zu der Auffassung, dass zum Zeitpunkt der Tat die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht beeinträchtigt war.
Ketschmar kannte jeden Satz. Tausendmal hatte er sich überlegt, ob es besser gewesen wäre, der Psychiater hätte ihn für komplett verrückt gehalten? Wohl kaum. Dann würden sie ihn in ein psychiatrisches Krankenhaus einweisen. In die
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