BIANCA EXKLUSIV Band 0180
kannte die Wandmalerei, von der sie gesprochen hatte. Es zeigte die Lady of Guadalupe in dem Augenblick, in dem sie den mexikanischen Indianern auf dem Gipfel eines hohen Berges erschienen war. Ihr Haupt war umgeben von einer Aura aus Gold.
Nachdem er die Broschüren und das Infoblatt der Kirchengemeinde gelesen und auch die Motive in den Bleifenstern eingehend betrachtet hatte, spazierte er aus der Vorhalle hinaus und auf den Haupteingang der Kirche zu. Er trat ein und schaute sich unschlüssig um, bis er plötzlich Tori entdeckte. Aber sie hatte sich nicht in die Sitzreihen gezwängt, um das Gemälde zu betrachten, sondern sie kniete in einem schmalen Alkoven im hinteren Teil der Kirche. Schlagartig wurde ihm klar, weshalb sie vor der Heiligen Mutter von Guadalupe betete.
Schließlich stand sie auf, bekreuzigte sich und gesellte sich zu ihm. Das Dämmerlicht und die gedämpfte Atmosphäre nahmen sie beide gefangen.
„Du hast dafür gebetet, dass Barbara ihre Meinung nicht ändert, stimmt’s?“, fragte Jake mit heiserer Stimme.
Tori nickte. „Natürlich will ich das Beste für das Baby. Aber ich sehne mich so sehr nach einem eigenen Kind, dass mir das Herz wehtut.“
Jake fand nicht die richtigen Worte, um sie zu trösten. Damals, bevor er Marion den Geiselnehmern in die Arme geschickt hatte, damals hatte er immer die richtigen Worte gefunden. Er hatte gewusst, was er wann und wie zu sagen hatte. Und wer am besten sprechen sollte. Und jetzt fehlten ihm die Worte, wenn er sie am meisten brauchte.
Draußen in der Sonne hatte Jake plötzlich das Gefühl, dass er sich nicht ohne Weiteres mit Tori in die enge Kabine seines Trucks setzen konnte. „Hast du Lust, dir den Marktplatz anzusehen? Wir sollten uns ein bisschen Bewegung verschaffen, bevor wir weiterfahren“, schlug er vor.
Nebeneinander spazierten sie ein paar Straßen entlang. Die Sonne knallte unbarmherzig auf das Pflaster, und eine leichte Brise wehte Tori die Haarsträhnen in den Nacken. Unwillkürlich wollte Jake ihr die widerspenstigen Locken hinter das Ohr streichen. Und er wollte noch viel mehr.
Er fasste Tori beim Ellbogen und spürte ihre weiche Haut an seinen Fingerspitzen. Nachdem sie die Straße überquert hatten, gingen sie den abschüssigen Fußweg zum Marktplatz hinunter. Er war mit großen Bäumen und einer Lehmziegelmauer umsäumt. In der Mitte befand sich ein dunkelbraunes Kreuz zur Erinnerung an die Kriegsopfer. Jake führte sie zu einer Bank und blieb abrupt stehen.
„Was ist los?“, fragte Tori verwundert.
Die Frau, die die Treppen eines kleinen Pavillons hinunterging, sah aus wie Marions Mutter. Elaine. Sie hatte das gleiche kurz geschnittene dunkle Haar mit grauen Strähnen …
Plötzlich erhellte die Sonne in das Gesicht der Frau. Es war eine Fremde. Jake war unendlich erleichtert darüber, dass seine Wahrnehmung ihm einen Streich gespielt hatte. Seit Marion ermordet worden war, hatte er keine zwei Worte mit ihrer Mutter gewechselt. Auch nach seiner Rückkehr nach Santa Fe war er der Begegnung nach Kräften ausgewichen. Immerhin wohnte Mrs. Montgomery in Santa Fe, und ihm war klar, dass sie einander jederzeit über den Weg laufen konnten. Im Einkaufszentrum, im Restaurant, auf der Straße. Sogar in Taos.
„Was ist los?“, hakte Tori nach.
„Nichts.“
„Doch.“ Sie griff nach seinem Unterarm. „Irgendetwas ist passiert.“
Was soll schon passiert sein?, dachte er. Abgesehen davon, dass die Katastrophe mittlerweile ein Jahr zurückliegt und ich mich noch genauso schuldig fühle wie am ersten Tag. Die Zeit heilt keine Wunden. Und sie kann die Erinnerung nicht auslöschen. „Mir geht’s gut“, gab er gleichmütig von sich. Hoffentlich hört sie bald damit auf!, fügte er stumm hinzu.
„Nein, dir geht’s nicht gut. Du bist anders als früher.“
Wütend fuhr er herum und blickte sie direkt an. „Verdammt noch mal, ja, ich bin anders als früher! Du etwa nicht? Zwölf lange Jahre liegen hinter uns. Seit der Arbeit bei der Polizei sehe ich das Leben eben mit anderen Augen.“
„Wer war diese Frau auf der Treppe?“
„Ich dachte, dass ich sie kenne, aber ich habe mich geirrt.“
„Und für wen hast du sie gehalten?“
„Tori, gib endlich Ruhe“, herrschte er sie an. „Ich erledige die Reparaturen in deinem Haus, weil du mich dafür bezahlst. Aber das gibt dir noch lange nicht das Recht, in meinem Privatleben herumzuschnüffeln.“
Als er bemerkte, dass Tori schmerzhaft das Gesicht verzog, hätte er
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