Biest: Thriller (German Edition)
zurecht und beobachtete ihn aus dem Augenwinkel. Soweit sie es beurteilen konnte, hatte er sie nicht wiedererkannt. Sie atmete aus. Zum ersten Mal, seit sie die Kabine verlassen hatte. Der Mann war mittelgroß und hatte pechschwarzes Haar. Dunkler Teint. Nordafrika, vermutete Solveigh. Das Auffälligste an ihm war seine auffällige Unauffälligkeit. Jetzt blickte er zu ihr herüber. Nur die Gier in seinen Augen verriet, dass er kein netter Kerl von nebenan war. Er musterte erst ihre Beine, dann wanderte sein Blick an dem engen Kleid hinauf. Sie spürte, wie er versuchte, sie auszuziehen. Umso sicherer war sie sich, dass er sie nicht erkannt haben konnte, denn dann hätten ihn seine Gefühle verraten. Er hatte mit Sicherheit eine Stinkwut auf die Frau, die ihm entkommen war. Und Solveigh hatte sein Versprechen, dass sie sich wiedersehen würden, nicht vergessen. Sie plante, ihm seinen Wunsch zu erfüllen, wenn auch anders, als er sich das möglicherweise vorgestellt hatte. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, drehte sie sich um und ging zurück in die Umkleide. Sie zog sich um und hängte das Kleid wieder über den Bügel. Als sie die Kabine wieder verließ, achtete sie darauf, noch einige weitere Stücke in Augenschein zu nehmen, um schließlich den Bügel zurück an die Stange zu hängen. Mit einem »Au revoir«, verließ sie das Geschäft. Sie hoffte, dass ihr Französischtraining mit Marcel so weit gefruchtet hatte, dass sie als Muttersprachlerin durchging. Der Mann blickte ihr nach, als sie das Geschäft verließ. Nicht gerade die besten Voraussetzungen für eine Verfolgung, wusste Solveigh. Vor dem Schaufenster des Geschäfts nebenan holte sie ihr Handy aus der Tasche. Ihre Hände zitterten, als sie einen Eintrag aus dem Telefonbuch wählte.
»Eddy, ich habe den Mann, der mich in London angegriffen hat. Er ist hier in Cannes.«
»Bist du dir sicher? Ich dachte, du hast ihn gar nicht gesehen?«
»Ich bin sicher. Das Parfum ist dasselbe, und das ist nicht gerade Massenware. Dazu dieselben Minzbonbons. Das kann unmöglich ein Zufall sein.«
Eddy funktionierte wie immer. Schnell und ohne viele Fragen zu stellen: »Okay, ich habe dein GPS-Signal und den Videofeed von der Brille auch. Willst du Verstärkung?«
»Noch nicht. Die Polizei ist das Letzte, was wir jetzt gebrauchen können. Er muss uns zum Biest führen. Er darf auf keinen Fall die Lunte riechen.«
»In Ordnung. Taxi ist bestellt, es wartet keine fünfzig Meter die Straße runter, und ich lasse es dir in einigem Abstand nachfahren. Ansonsten gibt es noch eine Busverbindung von einer Haltestelle etwa hundertfünfzig Meter nach Osten.«
Solveigh bedankte sich nicht. So wenig reden wie möglich. Sie brauchte ihre Sinne für etwas anderes. Sie wechselte die Straßenseite, unter den Palmen der Flaniermeile konnte sie ihn besser beobachten, ohne Gefahr zu laufen, sofort entdeckt zu werden, immerhin hatte er Zeit genug gehabt, sich ihr nicht gerade unauffälliges Outfit einzuprägen. Was hier an der Strandpromenade als perfekte Mimikry durchging, konnte sich bei einer Verfolgung durch die Stadt schnell in einen riesigen Nachteil verwandeln. Sie warf den Hut in einen Papierkorb am Straßenrand und setzte eine andere Sonnenbrille auf. Zumindest das beige Kleid stach nicht besonders ins Auge, was der Hauptgrund war, warum sie es ausgewählt hatte. Auch wenn es ihrem hellen Teint nicht besonders schmeichelte. Keine fünf Minuten später verließ der Mann das Geschäft. Er blickte sich nicht um, und Solveigh vermutete, dass er ihre Begegnung längst vergessen hatte. Er musterte eine Blondine, die ihm in Hotpants entgegenkam, mit derselben unverhohlenen Gier. Solveigh wollte ihm dafür in die Eier treten, diesem brutalen Vergewaltiger. Sie fragte sich, wie viele Frauen er wohl schon sexuell belästigt hatte oder Schlimmeres. Sie folgte ihm in einigem Abstand zu einem weißen Mittelklassekombi, der am Ende der Croisette parkte.
»Eddy, jetzt wäre das Taxi gut«, sagte sie, und das Mikrofon in ihrer Brille übertrug ihre Worte digital nach Amsterdam.
»Schon unterwegs.«
Als der Mann den weißen Wagen aus der Parkbucht steuerte, hielt neben ihr ein Taxi. So schnell wie möglich glitt sie auf den Rücksitz und bemühte sich, hinter dem Polster des Vordersitzes zu verschwinden.
»Der weiße Wagen dort vorne.« Eddy würde den Taxifahrer bereits instruiert haben, dass er Teil eines Polizeieinsatzes wurde. Das tat er immer, damit sie nicht unnötig Zeit mit
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