SGK224 - Das Gespensterhaus an der Themse
»Stell dir vor, Mary: ich
hab's geschafft! Er wird mir das Haus tatsächlich verkaufen. Zu einem
unglaublich günstigen Preis...« Die Frau, die das sagte, hieß Dorothy Myler,
war sechsundvierzig Jahre alt, geschieden und hatte drei Kinder.
»Das Haus - an der Themse ?« klang es aus dem Hörer zurück.
Dorothy Myler nickte. Sie
war ganz aufgeregt. »Ja, Mary, ja. Davon war doch die ganze Zeit schon die
Rede...«
Die Frau, eine Freundin
aus dem Londoner Stadtteil Chelsea, seufzte. »Aber ich dachte, du wolltest dann
doch davon Abstand nehmen ?«
»Das war nur ein Trick,
weißt du. Ich wollte auf diese Weise den Preis drücken .«
»Es ist also ganz sicher,
dass du das Haus kaufen wirst? Es kann nichts mehr schief gehen ?«
»Nein! Die Angelegenheit
ist, perfekt. Ich habe mit dem Makler bereits den Vorvertrag aufgesetzt .«
»Ich bezweifle, Dorothy,
das es eine gute Idee ist, dieses Haus zu kaufen. Ich hatte gehofft, du würdest
es nicht tun .«
»Aber warum denn, Mary?
So günstig komme ich nie wieder dazu .«
»Gerade der niedrige
Preis hätte dich stutzig machen müssen. Und vor allem auch die Tatsache, dass
das Haus seit über vier Jahren zum Verkauf steht und kein Mensch es haben
will.«
Dorothy Myler verdrehte
die Augen. »Diese alte, leidige Geschichte. Wer glaubt denn heute noch an
Geister, Mary? Das Haus an der Themse ist kein Spukhaus. Das ist dummes Gerede.
Es hegt wunderbar. Wir wohnen ganz für uns, und ich war heute Mittag mit den
Kindern noch mal dort. Auch die sind ganz begeistert. Nach der Enge in der
Mietwohnung kommen wir uns vor, als hätten wir ein Schloss erstanden...«
In diesem Sinn unterhielt
sich Dorothy Myler noch eine ganze Zeitlang mit ihrer Freundin.
Als die Frau die
Telefonzelle verließ, begann es draußen zu dämmern. Durch London wälzte sich
der Verkehr. Zahllose Passanten befanden sich auf den Straßen, die
Lichtreklamen gingen an, die roten einstöckigen Busse waren bis auf den letzten
Platz belegt.
Dorothy Myler hatte von
der Telefonzelle in unmittelbarer Nähe der Westminsterbridge aus angerufen.
Gedankenverloren ging die Frau den Weg über die Böschung nach unten zu den
Anlegestellen für die Ausflugsboote. Noch mit Beginn der Dunkelheit lief eines
der gut besetzten Schiffe an, um flussabwärts Richtung Towerbridge zu fahren
und die Neugierde und das Unterhaltungsbedürfnis der Touristen zu stillen.
Die
sechsundvierzigjährige Engländerin mit dem halblangen Haar, dem blassen,
ernsten Gesicht, in dem sich die Enttäuschung eines bisher geführten Lebens und
die Mühen abzeichneten, lief am Fluss entlang.
Sie musste sich im
stillen gestehen, dass das Gespräch mit ihrer Freundin wieder die alten Zweifel
geweckt hatte. Und deshalb ärgerte sie sich, dass sie überhaupt auf die Idee
gekommen war, Mary Bescheid zu geben. Sie hatte sich schon lange mit dem
Gedanken abgefunden, dass es mit dem alten Haus an der Themse seine Richtigkeit
hätte.
Der Weg nach dort dauerte
etwas mehr als eine Viertelstunde. Etwa eineinhalb Meilen von der Brücke
entfernt lag in die Böschung zurückgebaut in der Flussbiegung ein altes,
alleinstehendes Haus, dessen Fensterläden und Türen verschlossen waren. Dorothy
Myler ging um das Haus mit dem kleinen Garten herum. Der Verputz war
unansehnlich, und die Läden benötigten dringend einen neuen Anstrich. Wind und
Wetter hatten dem Gebäude in den letzten Jahren zugesetzt. Das Dach aber war in
Ordnung, die Räume innen trocken, und die notwendigen Renovierungsarbeiten
hielten sich in Grenzen.
Dorothy konnte mit ihrer
Familie praktisch umgehend einziehen. Die Räume waren bewohnbar, und es gab
sogar einige Möbel darin, die ihnen ausgesprochen gut gefielen. Der ehemalige
Besitzer, ein Geschäftsmann, der lange Jahre in Hongkong gelebt hatte, war
wieder in die britische Kronkolonie zurückgekehrt um dort seinen Lebensabend zu
verbringen.
Auch Dorothy Myler war
abergläubisch. Aber zum Glück nicht in dem Maß wie ihre Freundin Mary aus
Chelsea. Die Witwe versuchte sich über ihre augenblicklichen Gefühle Klarheit
zu verschaffen. Während sie bereits zum dritten Mal um das Haus ging, ihre
Blicke über die verschlossenen Fenster und Erker wandern ließ und den Garten
und die baufällige Gartenhütte inspizierte, wirbelten ihr noch einmal zahllose
Gedanken durch den Kopf.
Der ehemalige Besitzer,
Mr. James Conectree, war in einschlägigen Londoner Kreisen nicht besonders
beliebt. Man warf ihm unseriöse Geschäfte vor, während andere
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