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Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens
Autoren: Dörthe Binkert
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einen Schritt zur Seite, um ihn vorbeizulassen. Der Mann, er war nicht jung, er mochte auf die
     vierzig gehen, war nun fast auf ihrer Höhe und verlangsamte seine Schritte. Er konnte doch nicht einfach vor ihr stehen bleiben.
     Genau das aber schien er vorzuhaben. Er trug eine Weste und einen Anzug aus grobem Wollstoff, der schwarze Vollbart ließ fast
     nur die Unterlippe frei. Sie schlug die Augen nieder, als sein dunkler Blick sie traf. Der Mann musterte sie durchdringend,
     als ob er sie kenne und sich zu erinnern suche, wo er sie schon einmal gesehen hatte, und als sie wieder aufschaute, sah er
     sie noch immer forschend an. Verwirrt blickte sie zur Seite. Er war so anders als die Männer, die sie kannte. Seine Haltung
     war selbstbewusst, wie sie es noch nie in ihrem ganzen Leben bei einem Menschen gesehen hatte. Er war nicht wie die Bauern
     in Mulegns oder die Leute hier in Maloja, er kam aus einer anderen Welt. Er war ein Fremder. Wie sie. Der Mann nickte ihr
     zu, aber ihr Herz fing erst an zu beben, als er mit einem kurzen Gruß vorbei war.
    Nika griff verwirrt nach einer Strähne, die sich aus ihrem Haarknoten befreit hatte. Ihr widerspenstiges Haar vermochte sie
     zu bändigen, doch das änderte nichts daran, dass sie durcheinander war. Seine dunklen Augen versetzten ihren Kopf in einen
     Schwindel und ein Sausen, dass ihr fast übel wurde. Sie war es nicht gewohnt, dass man sie so ansah. Sie war es nicht gewohnt,
     dass man sie überhaupt ansah.
    Verdingkinder waren nichts, und sie war ein Verdingkind gewesen. Verdingkinder hatten nicht einmal einen Namen, waren, egal,
     wie sie hießen, »der Junge«, »das Mädchen«. Man sah sie nicht an. Und schon gar nicht so. Sie durften nicht mit den anderen
     Kindern spielen und außerhalb des Hofesnur das Notwendigste mit anderen Menschen sprechen. Sie waren nicht vorhanden in der Gemeinschaft des Dorfes. So war es ihr
     ergangen, so erging es anderen. Hatte sie deshalb nicht ihr Herz von klein auf zum Gehorsam erzogen wie einen Hund, den man
     an die Kette legt?
    Und nun schlug es einen ganz unkontrollierbaren, eigenen, wilden Takt. Jemand hatte sie angesehen. Plötzlich fühlte sie, dass
     sie nicht irgendwer war oder irgendetwas. Sie war eine Frau. Und er war ein Mann. Und ihr Herz sagte ihr, dass dieser Mann
     mit dem dunklen Blick tief in sie hineingesehen hatte.
    Nika zwang sich weiterzugehen und keinen Blick zurückzuwerfen. Er war ein Fremder. Einer, der die Einsamkeit kannte, die Schrecken
     der Dunkelheit, die Sehnsucht, die niemand heilen kann. Wie sie. Da drehte sie sich doch nach ihm um. Im gleichen Moment blieb
     er stehen, um ihr noch einmal nachzusehen. Sie hatten sich erkannt, im Lidschlag eines Augenblicks.
     
    Segantini war unruhig. Woher kannte er dieses Gesicht mit den eigenwilligen Zügen? Den seltsamen, blaugrünen Augen? Dem rotblonden
     Haar? Er hatte die junge Frau schon gesehen, da war er sich ganz sicher   … Und sie war es auch gewesen, die sich auf dem Steg über den See gebeugt und sich im Wasser betrachtet hatte, als er von
     seinem Besuch bei Oscar Bernhard zurückgekommen war. Die Geste, mit der sie dabei ihr langes Haar aus dem Gesicht gehalten
     hatte, verfolgte ihn schon seit Tagen. Er hatte sie im Kopf gezeichnet, wieder und wieder. Aber er hätte nicht sagen können,
     zu welcher Zeit seines Lebens sie gehörte, ob er sie aus Mailand kannte oder aus der Brianza oder seiner Savogniner Zeit.
    Sie war schön, anders schön als Bice. Er vertrieb die Gedanken und setzte seinen Spaziergang fort. Doch immer, wenn er sich
     gerade wieder in die Bildidee für das Panorama vertiefenwollte, drängte sich das Mädchen, das sich im Wasser bespiegelte, dazwischen. Schlank und nackt.
    ***
    James Danby langweilte sich zu Tode. Ohne eine Großstadt und die Frauen war das Leben ohne Sinn und Belang. Den Alpen hatte
     er noch nie etwas abgewinnen können, ganz gleich, wie viele seiner Landsleute von ihren Bergtouren bei Sonnenaufgang schwärmten.
     Er schlief gern lange, frühstückte dann mit Vorliebe ausgiebig bei einem guten English Breakfast Tea, den es hier selbstverständlich
     nicht in der Mischung gab, wie er sie liebte, und widmete sich dabei dem »New York Herald« aus Paris, der St. Moritz nur mit
     elender Verspätung erreichte. Das alles genügte schon, um ihm den Morgen zu verderben. Er konnte sich gar nicht erklären,
     was in Edward gefahren war, der zu einem wahren Naturfreund und Blumensammler mutiert war. Waren nicht
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