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Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens
Autoren: Dörthe Binkert
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Sie, Robustelli, ich wollte noch eine andere Sache mit Ihnen besprechen. Ich habe gehört, dass Sie eine junge Frau
     beschäftigen, die die Biancotti-Söhne auf dem Höhenweg von Grevasalvas nach Maloja gefunden haben. Es heißt, das Mädchen spreche
     nicht, und im Dorf spekuliert man das Blaue vom Himmel herunter. Sie wohnt bei den Biancottis, niemand kennt sie, und man
     rätselt, woher sie kommt.«
    Robustelli wartete höflich ab, denn es machte den Anschein, dass Segantini noch nicht ausgeredet hatte.
    »Nun, Robustelli, ich habe sie am See gesehen, und seitdem habe ich darüber nachgegrübelt, woher ich sie kenne.« Segantini
     verschränkte seine Arme vor der Brust und löste sie wieder, so als fiele ihm in diesem Moment die Antwort ein.
    »Sie kommt aus Mulegns! Von der andern Seite des Julier. Sie wissen, dass ich bis 1894 in Savognin gewohnt habe? Seit1886 waren wir dort zu Hause, und Savognin ist nicht weit von Mulegns entfernt, nur zwei Poststationen.«
    Er machte eine Pause, und Robustelli nickte, weil er Segantini noch immer nicht unterbrechen wollte.
    »Ich habe sie auf einem Dorffest in Mulegns gesehen, vor etwa drei Jahren, jedenfalls kurz bevor wir 1894 nach Maloja zogen.
     Sie war vielleicht fünfzehn, sechzehn Jahre alt damals, und sie fiel mir auf wegen ihrer ungewöhnlichen Augenfarbe und des
     schönen Haars. Aber sie war scheu und stand ganz am Rand des Festplatzes, und es holte sie auch niemand zum Tanz. Ich fragte
     den Wirt des ›Löwen‹ nach ihr, und der erzählte mir eine sonderbare Geschichte. Das Mädchen sei als Säugling ausgesetzt worden,
     seine Frau habe das Kind gefunden. Eine Reisende habe es nach dem Mittagshalt der Postkutsche dort zurückgelassen.«
    Segantini räusperte sich, und Robustelli schob ihm ein Glas Wasser über den Tisch zu. Er hatte gehört, dass Segantini seinerseits
     als Knabe von seinem Vater verlassen worden war und ihn angeblich nie wieder gesehen hatte. Die Geschichte des Mädchens bewegte
     den Maler ganz offensichtlich und weckte wohl alte traurige Gefühle in ihm. Achille Robustelli räusperte sich einfühlend,
     wie sein Gegenüber es getan hatte, sagte aber noch immer nichts.
    »Die Mutter hatte außer dem Kind einen Umschlag mit Geld dagelassen, das man dem Bauern gab, der das Kind bei sich aufnahm.
     Es wurde danach nicht anders behandelt als man es mit Verdingkindern tut. Die sind schon im Kindesalter nichts anderes als
     Arbeitskräfte, die arbeiten müssen als seien sie erwachsene Mägde oder Knechte.«
    Segantini nahm einen Schluck Wasser, seine Stimme verriet Mitleid und auch einen gewissen Zorn. »Der Wirt zuckte die Schultern.
     Das Mädchen spreche nicht, was nicht unüblich sei, da Verdingkinder sowieso keine Stimme hätten, die gehörtwürde, und diese Wesen   – Waisen, uneheliche Kinder oder Kinder aus verarmten Familien – oft auch Sprechverbot erhielten. Da sie oft schlechter als
     das Vieh gehalten würden, wolle man verhindern, dass sie sich irgendwo beklagten.«
    Segantini war aufgestanden und durchmaß mit langen, erregten Schritten Robustellis Büro.
    Robustelli entschied sich, nun doch etwas zu sagen.
    »Ja. Die junge Frau arbeitet hier. Andrina Biancotti hat mich gefragt, ob man sie im Hotel nicht brauchen könne. Und da sie
     nicht spricht, was nun doch ein gewisser Nachteil ist, habe ich sie in die Wäscherei geschickt. Dort braucht sie ihre Hände
     und nicht unbedingt ein Mundwerk.«
    »Nun«, erklärte Segantini, »ich möchte mich ihrer annehmen. Ich weiß von dem Wirt aus Mulegns, dass sie nicht stumm ist, und
     wenn sie nicht stumm ist, taugt sie vielleicht zu besserer Arbeit.«
    Nun wurde Robustelli doch etwas nervös und drehte an dem Ring, den er am kleinen Finger trug. Und obwohl diese Bewegung an
     eine magische Handlung erinnerte, war sich Achille Robustelli sehr bewusst, dass er nicht zaubern konnte und Segantini vielleicht
     würde enttäuschen müssen.
    »Was stellen Sie sich denn vor, lieber Segantini, was mit dem Mädchen geschehen soll?«, fragte er vorsichtig.
    Segantini sprang von seinem Stuhl auf und erwiderte mit plötzlicher Heftigkeit: »Ich bin geworden, was ich bin, weil endlich,
     nach langen, qualvollen Jahren, jemand an mich geglaubt und mich gefördert hat. Und hier sehe ich, dass ich helfen kann, helfen
     muss! Unterstützen Sie mich dabei. Versetzen Sie das Mädchen an einen Ort, an dem ich es sehen kann. Ich will es zum Sprechen
     bringen, und dann wird man weitersehen.«
    Achille
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