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Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dörthe Binkert
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die Männer Jäger und
     die Frauen Sammlerinnen?
    Auf eine weitere Woche in der Pension Veraguth hatte er sich noch eingelassen, denn Segantini hatte auf den Brief, den er
     ihm gesandt hatte, noch nicht geantwortet. Ohne die Reportage gemacht zu haben, wollte er nicht abreisen, aber dann würden
     ihn keine zehn Pferde mehr davon abhalten, nach London zurückzukehren.
    Er musste allerdings zugeben, dass er, je länger er darüber nachdachte, neugierig auf die Begegnung mit Segantini war. Es
     war ein Phänomen, dass dieser Mann so berühmt war, da er weder in den Salons noch in Künstlerkreisen verkehrte. Er genoss
     nicht einmal den Vorteil, dass sich sein Ruhm von seinem Heimatland Italien aus verbreitete, denn dort gab man wenig auf ihn.
     In anderen Ländern aber traf er offensichtlich einen Nerv. Seine Landschaftsbilder befriedigten wohl, jemehr die Technisierung der Welt voranschritt, die Sehnsucht nach einer heilen Welt, nach Einklang mit der Natur.
    Dabei war es nicht zu übersehen, dass die Gemälde Segantinis eine tiefe Melancholie ausstrahlten, die Stille seiner Sonnenuntergänge
     ließ einen vor Einsamkeit erschauern. Die Hirtinnen und Knechte auf Segantinis Bildern lebten nicht idyllisch, man spürte,
     dass ihr Leben schwer war und dass die Menschen auf ihre Weise ein Joch trugen wie ihre Rinder und Arbeitspferde. James schüttelte
     sich leicht bei diesen Gedanken, als trüge er selbst eine unsichtbare Last und als wolle er sie damit vertreiben, weil sie
     so gar nicht zu seiner jetzigen Lebensauffassung passten.
    Die Erinnerung an ein Gefühl der Einsamkeit und Schwere aus seiner Zeit im Internat, vor allem aus den ersten Jahren dort,
     durchfuhr ihn. Damals hatte er sich mit Edward angefreundet, wahrscheinlich weil Edward eine deutsche Mutter hatte und Deutsch
     konnte. James hieß nämlich eigentlich Jakob Scheffner, stammte aus Berlin und kam nur dank eines entfernten Onkels, Albert
     Danby, in den Genuss einer so guten Ausbildung. Seine Eltern hatten nicht viel Geld, und der sehr viel ältere Verwandte seiner
     Mutter, der in England lebte und wohlhabend war, übernahm dankenswerter Weise die Ausbildungskosten für den Jungen. Aus Jakob
     wurde James, und James nahm schließlich den Namen Danby an, obwohl James seinen Onkel anderweitig nicht beerbte.
    Für einen Moment also fühlte James beim Gedanken an die Bilder Segantinis die Verlassenheit, die er gespürt hatte, wenn die
     anderen Jungen am Wochenende nach Hause fuhren, die Flure und Schlafsäle sich leerten, das Trappeln eiliger Jungenfüße auf
     den blank gebohnerten Treppen und Gängen schließlich verebbte. Manchmal hatte Edward ihn mit nach Hause bringen dürfen, was
     ihre Freundschaft festigte. Aber an diese alten Zeiten wollte James Danby ungern erinnertwerden, und vielleicht war auch das mit ein Grund, warum ihn ein gewisses Unbehagen überkam, wenn er an Segantini und dessen
     Bilder dachte.
    Immerhin reisten langsam die ersten Ferien- und Kurgäste an, und darunter hatte James Danby schon einige hübsche Frauen ausgemacht.
     Er würde versuchen, diese letzte Woche im Gegensatz zu seinem Freund als Jäger zu verbringen. Er fand, dass die Bräune, die
     er inzwischen beim Tennisspielen erworben hatte, einem Jäger gut stand, und er nahm sich vor, heute im Kurpark von St. Moritz
     Bad der hübschesten Frau, die er fand, den Hof zu machen, während Edward der Frühlingsflora huldigte.
    Er lächelte bei dem Gedanken und wählte statt Knickerbocker und Tweed einen eleganten Anzug, um auf seinem Streifzug Aufmerksamkeit
     zu erregen.
    ***
    »Madam?« James erhob sich höflich von der Parkbank und wies mit der Hand auf seinen Platz. »Einen schönen guten Tag! Sie sahen
     gerade so aus, als würden Sie sich gern für einen Moment setzen   … Darf ich Ihnen meinen Platz anbieten?«
    Falls er gedacht hatte, die Angesprochene damit in Verlegenheit zu bringen, hatte er sich gründlich getäuscht. Sie hatte sich
     zwar mit einer Art gelangweilten Missmuts umgesehen, aber auf seine Frage reagierte sie, als ob sie noch im Schlaf zum blitzschnellen
     Schlagabtausch bereit wäre.
    »Ist das alles, was Sie mir anzubieten haben?«, fragte sie mit einem spöttischen Lächeln, während sie sich tatsächlich setzte
     und den Schleier von ihrem Hut zurückschlug. »Einen Platz auf einer Bank, die sowieso allen zur Verfügung steht?«
    James blickte entzückt in ihre mutwilligen blauen Augen. Sie aber wandte den Blick von ihm ab und winkte dem

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