Billard Um Halb Zehn: Roman
können; Frau Trischlers Hände würden der Zeit standgehalten haben, wie die Augen des Alten und Alois' Foto an der Wand; Bierflaschen, Zwiebelbündel, Tomaten, Brot und Tabak; ankernde Schiffe, schwankende Stege, über die Segeltuchrollen getragen wurden: riesige Schmetterlingspuppen würden rheinabwärts fahren, den Nebeln der Nordsee zu.
Stille herrschte hier; frisch war der Kohlenhaufen hinter Michaelis' Zaun, Berge hellroter Ziegel im Baustofflager, schlurfende Nachtwächterschritte hinter Zäunen und Werkbuden machten die Stille noch größer.
Schrella lächelte, lehnte sich übers rostige Geländer, drehte sich um und erschrak: er hatte von der neuen Brücke nichts gewußt, auch Nettlinger hatte nichts davon gesagt ; sie schob sich breit übers alte Hafenbecken hinüber, die dunkelgrünen
Pfeiler standen genau dort, wo Trischlers Haus gewesen war; Brückenschatten bedeckte den Kai vorn, wo das Treidlerhaus gestanden hatte, im Strom rahmten riesige leere Stahltore blaues Nichts ein. In Trischlers Kneipe hatte Vater am liebsten gearbeitet, Schiffer und ihre Frauen bedient, die im Garten auf den roten Stühlen saßen, an langen Sommerabenden, während Alois, Edith und er im alten Hafenbecken angelten. Ewigkeit kindlicher Zeitrechnung, Unendlichkeit, wie er sie nur noch aus Verszeilen kennengelernt hatte; drüben läuteten die Glocken von Sankt Severin, läuteten Frieden und Zuversicht in den Abend, während Edith mit ihren unruhigen Händen den Rhythmus des hüpfenden Schwimmers in die Luft zeichnete, ihre Hüften, ihre Arme der ganze Körper tanzte im Rhythmus des hüpfenden Schwimmers; und nicht einmal hatte ein Fisch angebissen.
Vater servierte gelbes Bier mit weißem Schaum, mehr Milde als Verbissenheit strahlte sein Gesicht aus, und fröhlich lächelnd lehnte er Trinkgeld ab, weil alle Menschen Brüder sind. ›Brüder, Brüder‹, rief er es laut in den Sommerabend; bedächtige Schiffergesichter lächelten, hübsche Frauen mit Zuversicht in den Augen schüttelten über soviel kindliches Pathos den Kopf und klatschten doch Beifall, Brüder und Schwestern.
Schrella stieg langsam die Balustrade hinunter, ging am Hafenbecken vorbei, wo rostige Pontons und Boote auf Schrotthändler warteten; er tauchte tief unter den grünen Schatten der Brücke, sah in der Mitte des Stromes die eifrigen Krane, die Brückenteile auf Lastkähne luden, wo stöhnender Schrott vom Gewicht des Hinzukommenden zusammengedrückt wurde; er fand den pompösen Aufgang, spürte, wie die breiten Stufen den Schritt zur Feierlichkeit zwangen; in gespenstischer Zuversicht hob sich die leere, saubere Autobahn zum Fluß hin, auf die Brücke zu, wo Schilder mit gekreuztem Gebein, riesige Totenschädel, weiß auf schwarz die Zuversicht bremsten; Schilder mit TOD TOD hemmten den Marsch nach Westen,
während die leere Straße ostwärts in eine Unendlichkeit flimmernden Rübenlaubs führte.
Schrella ging weiter, drückte sich zwischen TOD und gekreuztem Gebein hindurch, an der Baubude vorbei, beschwichtigte einen Nachtwächter, der schon die Arme zu aufgeregtem Fuchteln erhoben hatte, sie aber sinken ließ, von Schrellas Lächeln beruhigt; Schrella ging weiter bis an den Rand; rostige Moniereisen, an denen Betonbrocken baumelten, bewiesen hier durch fünfzehn Jahre währendes ungebrochenes Standhalten die Qualität deutschen Stahls; jenseits des Stromes, hinter den leeren Stahltoren führte die Bahn am Golfplatz vorbei wieder in die Unendlichkeit flimmernden Rübenlaubs.
Cafe Bellevue. Uferallee. Rechts die Sportwiesen, Schlagball, Schlagball. Der Ball, den Robert schlug, und die Bälle, die sie in der holländischen Kneipe mit dem Queue anstießen, rot über grün, weiß über grün, die monotone Musik der Bälle, klang fast wie Gregorianik; die Figuren, die die Bälle bildeten, wie strenge Poesie, die drei hoch unendlich aus grünem Filz zauberte; nie vom Sakrament des Büffels gekostet, blindlings Wunden empfangen, Weide meine Lämmer auf Vorstadtwiesen, wo Schlagball gespielt wird, in Gruffelstraßen und in Modestgassen, in englischen Vorstadtstraßen und hinter Gefängnismauern; Weide meine Lämmer, wo du sie triffst, auch wenn sie nichts Besseres zu tun wissen als Hölderlin zu lesen und Trakl, nichts Besseres als fünfzehn Jahre lang: ›Ich binde, ich band, ich habe gebunden, ich werde binden, ich hatte gebunden, ich werde gebunden haben‹ an Tafeln zu schreiben, während Nettlingers Kinder auf gepflegtem Rasen - das können die
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