Billard Um Halb Zehn: Roman
heraufbeschwören, die Strenge kindlicher Gefühle aus aufgeweichten Erwachsenenseelen zurückerwarten, erfahren, daß sie jetzt etwas dafür nahm; Vorsicht, nur nicht die Sprache in Bewegung setzen.
»Ja, dreißig Pfennig. Danke.« Ferdi Progulskes Schwester blickte ihn mit routinierter Freundlichkeit an. Auch mich hast du
erlöst und nichts dafür genommen, nicht einmal den Riegel Schokolade, der in meiner Tasche weich geworden war, und es sollte doch nicht Bezahlung sein, sondern ein Geschenk, aber du nahmst es nicht; erlöst mit dem Mitleid deines Mundes und deiner Hände; ich hoffe, du hast es Ferdi nie erzählt, zum Mitleid gehört Diskretion; in Sprache verwandelte Geheimnisse können tödlich werden; ich hoffe, er hat es nicht gewußt, als er an jenem Julimorgen den Himmel zum letzten Mal sah; ich war der einzige, in der Gruffelstraße, den er zu edler Tat bereit fand; Edith zählte damals noch nicht, sie war erst zwölf, die Weisheit ihres Herzens war noch nicht zu entziffern.
»Kennen wir uns wirklich nicht?«
»Nein, ich bin sicher.«
Heute würdest du mein Geschenk nehmen, dein Herz ist fest, doch nicht mitleidend geblieben; wenige Wochen später schon hattest du die Unschuld kindlicher Lasterhaftigkeit verloren, hattest schon entschieden, daß es besser sei, das Mitleid abzuwerfen, und warst dir klar darüber, daß du dir nicht als weinerliche blonde Schlampe die Seele ausweinen würdest; nein, wir kennen uns nicht, wirklich nicht; wir wollen die Eisblumen nicht auftauen. Danke, auf Wiedersehen.
Drüben immer noch das ›Blesseneck‹, wo Vater gekellnert hat; Bier, Schnaps, Frikadellen, Bier, Schnaps, Frikadellen; alles serviert mit diesem Gesicht, in dem Milde und Verbissenheit sich zu etwas Einmaligem mischten; Gesicht eines Träumers, dem es gleichgültig war, ob er im Blesseneck Bier, Schnaps und Frikadellen servierte oder im Prinz Heinrich Hummer und Sekt oder am oberen Hafen übernächtigen Huren Frühstück: Bier, Kotelett, Schokolade und Cherry Brandy; Vater brachte Spuren dieser klebrigen Frühstücke an seinen Manschetten mit, brachte gute Trinkgelder mit, Schokolade und Zigaretten, brachte nicht mit, was andere Väter mitbrachten: Feierabendheiterkeit, die sich in Gebrüll und Zank, in Liebesbeteuerungen und
verbissene Milde im Gesicht, verirrter Engel, der Ferdi unterm Schanktisch verbarg, wo die Hilfspolizei ihn zwischen Bierleitungen herausholte; der immer noch, schon in Todesgewißheit, lächelte; klebriges Zeug wurde aus Manschetten gewaschen, Stärke angerührt, damit das weiße Kellnerhemd steif werde und leuchte; sie holten ihn erst am anderen Morgen, als er mit seinen Butterbroten und den schwarzen Lackschuhen unterm Arm zum Dienst fahren wollte; er bestieg ihr Auto und ward nicht mehr gesehen; kein weißes Kreuz, keine Astern, der Kellner Alfred Schrella. Nicht einmal auf der Flucht erschossen - ward einfach nicht mehr gesehen.
Edith rührte Stärke an, wichste die schwarzen Reserveschuhe, reinigte weiße Krawatten, während ich lernte, spielend lernte, Ovid und Kegelschnitte, Heinrichs des Ersten, Heinrichs des Zweiten Pläne und Taten und Tacitus' und Wilhelms des Ersten, Wilhelms des Zweiten Pläne und Taten; Kleist und sphärische Trigonometrie; begabt, begabt, ganz außerordentlich begabt; Arbeiterkind, hatte das gleiche wie die anderen gegen vieltausendfache Widerstände anzulernen, war außerdem zu edler Tat verschworen und leistete mir sogar noch ein Privatvergnügen: Hölderlin.
Sieben Minuten noch bis zur Abfahrt der nächsten Elf. Gruffelstraße Numero siebzehn, das Haus neuverputzt, ein parkendes Auto davor: grün; ein Fahrrad: rot; zwei Roller: schmutzig. Achtzehntausendmal auf die Klingel gedrückt, auf den gelblich blassen Messingknopf, der seinem Daumen noch vertraut war; wo früher Schrella gestanden hatte, stand jetzt Tressel; wo früher Schmitz gestanden hatte, stand jetzt Hu- mann; neue Namen, nur einer war geblieben: Fruhl - eine Tasse Zucker geliehen, eine Tasse Mehl, eine Tasse Essig, einen Eierbecher voll Salatöl - wieviel Tassen, wieviel Eierbecher, und zu welch hohem Zinssatz?; Frau Fruhl füllte die Tassen und Eierbecher immer nur halb und machte einen Strich an den
Türrahmen, wo sie M, Z, E und Ö stehen hatte, radierte mit dem
Daumen die Striche erst aus, wenn sie volle Tassen, volle Eierbecher zurückbekam, flüsterte es durch den Hausflur, in Läden und bei Treffen mit Freundinnen, wo bei Eierlikör und Kartoffelsalat Populärgynäkologie
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