Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Billard Um Halb Zehn: Roman

Billard Um Halb Zehn: Roman

Titel: Billard Um Halb Zehn: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
Vom Netzwerk:
getrieben wurde, flüsterte es:
    ›Mein Gott sind die doof‹; sie hatte früh schon vom Sakrament
    des Büffels gegessen, ihren Mann und ihre Tochter gezwungen, es einzunehmen, sang es im Flur: Es zittern die morschen Knochen. Nichts, kein Gefühl, nur die Daumenhaut, die auf dem blaßgelben Messingknopf ruhte, empfand etwas wie Rührung.
    »Suchen Sie jemand?«
    »Ja«, sagte er, »Schrellas, wohnen die nicht mehr hier?«
    »Nein«, sagte das Mädchen, »das wüßte ich, wenn die hier wohnten.« Es war rotwangig, lieblich, turnte auf schwankendem Roller, hielt sich an der Hausmauer fest.
    »Nein, die haben hier nie gewohnt.« Rannte los, strampelte wild über den Gehsteig, durch die Gosse und schrie: »Kennt hier jemand Schrellas?« Er zitterte, es könnte jemand Ja rufen und er würde hingehen, begrüßen, Erinnerungen austauschen müssen; ja, den Ferdi, den haben sie - deinen Vater, den haben sie - und die Edith, die hat ja fein geheiratet - aber das rotwangige Mädchen rannte ohne Erfolg umher, drehte mit seinem schmutzigen Roller kühne Kurven, von Gruppe zu Gruppe, schrie es in die offenen Fenster hinauf: »Kennt hier jemand Schrellas?« Sie kam mit erhitztem Gesicht zurück, zog eine elegante Schleife, blieb vor ihm stehen: »Nein, Herr, die kennt hier niemand.«
    »Danke«, sagte er lächelnd, »magst du einen Groschen?«
    »Ja.« Strahlend sauste sie in Richtung Limonadenbude davon.
    »Ich habe gesündigt, habe schwer gesündigt«, murmelte er lächelnd, während er zur Endstation zurückging, »ich habe zum Huhn aus dem Hotel Prinz Heinrich Waldmeisterlimonade aus der Gruffelstraße getrunken; ich habe die Erinnerung ruhen lassen, die Eisblumen nicht aufgetaut; in Erika Progulskes
    Augen wollte ich kein Erkennen aufblitzen sehen, aus ihrem Mund den Namen Ferdi nicht hören; nur die Haut meines Daumens hat Erinnerung zelebriert, hat den Klingelknopf aus blaßgelbem Messing erkannt.«
    Es war wie Spießrutenlaufen zwischen Augenpaaren, die vom Straßenrand, aus Fenstern und Hauseingängen, in sommerlicher Sonne, den Feierabend genießend, ihn genau beobachteten; war keiner darunter, der seine Brille, seinen Gang, das Zusammenkneifen der Augen erkennen würde, unter dem ausländischen Mantel den vielverspotteten Hölderlinleser, dem sie das Spottlied nachgerufen hatten: ›Der Schrella, der Schrella, der Schrella liest Gedichte?‹
    Er wischte sich angstvoll den Schweiß ab, nahm den Hut vom Kopf, blieb stehen und blickte von der Ecke aus in die Gruffelstraße zurück; niemand war ihm gefolgt; junge Burschen saßen auf Motorrädern, halb nach vorn gebeugt, flüsterten jungen Mädchen Liebesversprechen zu; Bierflaschen auf Fensterbänken fingen Nachmittagssonne ein; dort drüben das Haus, in dem der Engel geboren worden war und gewohnt hatte; vielleicht war der Messingknopf noch da, auf dem Ferdis Daume n fünfzehntausendmal geruht hatte; grüne Hausfassade, flimmernde Drogerieauslagen, Zahnpastareklame gleich unterhalb des Fensters, in dem Ferdi so oft gelegen hatte.
    Der Parkweg, von dem weg Robert Edith ins Gebüsch gezogen hatte, an einem Juliabend vor dreiundzwanzig Jahren; jetzt hockten Rentner dort auf Bänken, tauschten Witze aus, schnüffelten an Tabaksorten, beklagten die Unerzogenheit spielender Kinder; gereizte Mütter riefen ein bitteres Schicksal auf ihre ungehorsame Brut herab, beschworen schreckliche Zukunft: Daß dich der Atom hole; Jungen, mit Gebetbüchern unterm Arm, kamen von der Beichte, noch unschlüssig, ob sie den Zustand der Gnade schon jetzt oder erst morgen verlassen sollten.
    Immer noch eine Minute bis zur Abfahrt der nächsten Elf; schon seit dreißig Jahren liefen die rostigen Schienen in eine leere Zukunft; Ferdis Schwester füllte jetzt grüne Limonade in ein sauberes Glas; der Straßenbahnführer klingelte zum Sammeln; müde Schaffner köpften ihre Zigaretten, rückten ihre Geldtaschen zurecht, stiegen in ihre Schleuse, klingelten Alarm, weil weit hinten, wo die rostigen Schienen endeten, eine alte Frau zum Laufen ansetzte.
    »Zum Hauptbahnhof«, sagte Schrella, »mit Umsteigen zum Hafen.«
    »Fünfundvierzig.«
    Wenig solide Häuser, solidere Häuser, sehr solide Häuser. Umsteigen, ja, es ist immer noch die Sechzehn, die zum Hafen fährt.
    Baustoffhandlung, Kohlenlager, Verladerampen, und er konnte es von der Balustrade des alten Wiegehauses aus lesen:
    ›Michaelis, Kohlen, Koks, Briketts.‹
    Nur noch umwenden, zwei Minuten Weg, und er würde Erinnerung vollziehen

Weitere Kostenlose Bücher