Billard Um Halb Zehn: Roman
Blessischer Bahnhof, Innerer Ring; sie klangen fremd, die Namen, wie aus Träumen, die andere geträumt hatten und vergebens mitzuteilen versuchten, klangen wie Hilferufe aus tiefen Nebelschichten, während die Bahn, fast leer, durch den sonnigen Sommernachmittag auf die Endstation zufuhr. Dort, Ecke Parklinie und Innerer Ring, hatte die Bude gestanden, in der seine Mutter sich als Fischbraterin versuchte, aber am mitleidigen Herzen gescheitert war: ›Wie kann ich denn hungrigen Kindern ein Stück gebratenen Fisch verweigern, wenn sie mir beim Braten zuschauen? Wie kann ich das?‹ Und Vater sagte: ›Natürlich kannst du's nicht, aber wir müssen die Bude aufgeben, kein Kredit mehr, Pleite, die Händler liefern nicht.‹ Panierte Fischfilets wurden in heißem Öl gar, während Mutter ein, zwei, drei Löffel Kartoffelsalat auf Pappteller häufte; Mutters Herz war mitleidend nicht fest geblieben; Tränen rannen aus den blauen Augen, Nachbarinnen flüsterten sich zu: die weint sich die Seele aus; aß nicht mehr, trank nicht mehr, ihre durchblutete Rundheit wandelte sich in blutarme Magerkeit; nichts mehr vo n der hübschen Kaltmamsell, die am Bahnhofsbüfett so beliebt gewesen war; flüsterte nur noch Herr, Herr, blätterte in zerfransten Sektierergebetbüchern, die das Ende der Welt verkündeten, während auf der Straße rote Fahnen
im staubigen Wind flatterten, andere Hindenburgs Kopf auf Plakaten durch die Straßen trugen; Geschrei, Prügelei, Schüsse; Schalmeien und Trommeln. Als sie starb, sah Mutter aus wie ein Mädchen, blutarm, mager; Reihengrab mit Astern drauf, ein dünnes Holzkreuz: Edith Schrella 1896-1932; die Seele ausgeweint, der Leib der Erde des Nordfriedhofes beigemischt.
»Endstation, mein Herr«, verkündete der Schaffner, stieg aus seiner Schleuse, zündete den Zigarettenstummel an, kam nach vorn: »Weiter fahren wir leider nicht.«
»Danke.« Viertausendmal eingestiegen, ausgestiegen; Endstation der Elf; zwischen Baggerlöchern und Baracken verloren sich rostige Schienen, die vor dreißig Jahren einmal der Weiterführung der Bahn hatten dienen sollen; Limonadenbude: Chrom, Glasballons, blitzende Automaten; korrekt sortierte Schokoladentafeln.
»Bitte, eine Limonade.«
Das grüne Zeug in einem makellosen Glas schmeckte nach Waldmeister.
»Bitte, der Herr, wenn es Ihnen nichts ausmacht, das Abfallpapier in den Korb. Schmeckt es?«
»Danke.« Die beiden Hühnerschenkel waren noch warm, lockeres Brustfleisch, knusprig in allerbestem Fett gebraten, der Cellophanbeutel mit Spezial-Picknick-Warmhalte-Nadeln zugeknipst.
»Das riecht nicht schlecht. Noch eine Limonade dazu?«
»Danke, nein, aber bitte sechs Zigaretten.«
In der fetten Budenbesitzerin war noch das zarte hübsche Mädchen zu erkennen, das sie einmal gewesen war: blaue Kinderaugen hatten beim Erstkommunionsunterricht den schwärmerischen Kaplan zu Attributen wie ›engelgleich‹ und
›unschuldig‹ hingerissen, waren jetzt zu händlerischer Härte versteinert.
»Macht zusammen neunzig, bitte.«
»Danke.«
Eben klingelte die Elf, mit der er gekommen war, zur Abfahrt; er zögerte zu lange, sah sich für zwölf Minuten in Blessenfeld gefangen; er rauchte, trank langsam den Rest der Limonade und suchte hinter dem steinern rosigen Gesicht nach dem Namen des Mädchens, das sie einmal gewesen war; blond, raste mit wehendem Haar durch den Park, schrie, sang und lockte in dunklen Fluren, als längst schon die Engelgleichheit dahingegangen war; erzwang heisere Liebesversprechen aus erregten Knabenkehlen, während der Bruder, blond wie sie, engelgleich wie sie, die Knaben der Straße vergebens zu edler Tat aufrief; Tischlerlehrling, Hundertmeterläufer, im Morgengrauen um einer Torheit willen geköpft.
»Bitte«, sagte Schrella, »doch noch eine Limonade.«
Er blickte auf den makellosen Scheitel der jungen Frau, die sich vorneigte, um das Glas unter den Ballon zu halten; ihr Bruder war Ferdi, der engelgleiche, ihr Name wurde später von rauhen Jungenkehlen weitergeflüstert, von Mund zu Mund gegeben wie ein Losungswort, das zum Eintritt ins Paradies berechtigte: Erika Progulske, Erlöserin aus dunklen Qualen, und nimmt nichts dafür, weil sie es gern tut.
»Kennen wir uns?« Lächelnd stellte sie das Limonadenglas auf die Theke.
»Nein«, sagte er lächelnd, »ich glaube nicht.«
Nur nicht die Erinnerung aus ihrer Erfrierung auftauen, die Eisblumen würden wie flaues schmuddliges Wasser herunterrinnen; nur nichts
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