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Billard Um Halb Zehn: Roman

Billard Um Halb Zehn: Roman

Titel: Billard Um Halb Zehn: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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wollte über Denklingen fahren.« »Ich denke, wir fahren auf dem kürzesten Weg in die Stadt?« »Wenn wir um sechs in der Stadt sind, ist es früh genug«, sagte Ruth, »zum Umziehen brauchen wir nicht mehr als eine Stunde.« Das Gespräch der Kinder klang leise wie Geflüster aus dunklen Erdschächten, wo Verschüttete einander Hoffnung zusprechen; ich sehe Licht; du täuschst dich; aber ich sehe wirklich Licht; wo?; hörst du denn nicht das Klopfen der Rettungsmannschaft?; ich höre nichts; hatten wir denn im Gästezimmer laut gesprochen?
    Es ist nicht gut, Formeln aus ihrer Erstarrung zu lösen, Geheimnisse in Worte zu fassen, Erinnerung in Gefühle
    Liebe und Haß töten; gab es wirklich einmal den Hauptmann, der Robert Fähmel hieß, der sich im Kasinojargon so gut auskannte, Gepflogenheiten so präzis exerzierte, pflichtgemäß die Frau des rangältesten Offiziers zum Tanz aufforderte, mit knapper Stimme Toaste auszubringen verstand; auf die Ehre unseres geliebten deutschen Volkes; Sekt, Ordonnanz; Billardspiel; rot über grün, weiß über grün; weiß über grün; und eines Abends stand ihm einer gegenüber, hielt den Billardstock in der Hand, lächelte und sagte: ›Schrit, Leutnant, wie Sie sehen, Sprengspezialist wie Sie, Herr Hauptmann, verteidige mit Dynamit die abendländische Kultur.‹ Der trug keine gemischte Seele in der Brust, der konnte warten und sparen, brauchte nicht immer wieder Herz und Gefühl zu mobilisieren, betrank sich nicht an Tragik, hatte den Schwur geleistet, nur deutsche Brücken, nur deutsche Häuser zu sprengen, an keiner russischen Kate auch nur eine Fensterscheibe zu zerstören; warten, Billard spielen, kein Wort zuviel - und endlich lag sie in der Frühlingssonne, unsere große Beute, auf die wir so lange hatten warten müssen: Sankt Anton; am Horizont die Beute, die uns entgehen sollte: Sankt Severin.
    »Fahr nicht so schnell«, sagte Marianne leise.
    »Entschuldige«, sagte Joseph.
    »Sag, was wollen wir hier in Denklingen?«
    »Großvater will dorthin«, sagte Joseph.
    »Nein, Joseph«, sagte Ruth, »fahr nicht mit dem Auto in die Allee, siehst du nicht das Schild: ›Nur für Anliegen‹? Zählst du dich etwa dazu?«
    Die große Abordnung: Gatte, Sohn, Enkel und zukünftige Schwiegertochter stiegen ins verwunschene Schloß hinunter.
    »Nein, nein«, sagte Ruth, »ich warte hier draußen. Bitte, laßt mich.«
    Abends, wenn ich mit Vater im Wohnzimmer sitze, könnte Großmutter dabeisein; ich lese, er trinkt Wein, kramt in seinen
    Karteikästen, legt die doppelpostkartengroßen Fotokopien wie eine Patience vor sich aus; immer korrekt, nie die Krawatte gelockert, nie die Weste geöffnet, nie zu väterlicher Gemütlichkeit sich aufgelöst; zurückhaltend und besorgt:
    ›Brauchst du Bücher, Kleider, Geld für die Reise; langweilst du
    dich nicht, Kind? Möchtest du lieber ausgehen? Ins Theater, ins Kino, zum Tanzen; ich werde dich gern begleiten; oder möchtest du deinen Schulfreundinnen noch einmal einen Kaffee oben auf dem Dachgarten geben, jetzt, wo das Wetter so schön ist?‹ Abendspaziergang vorm Zubettgehen, rund um den Häuserblock, Modestgasse bis zum Tor, dann die Bahnhofstraße hinunter bis zum Bahnhof; ›Riechst du die Ferne, Kind?‹; durch die Unterführung, an Sankt Severin, am Hotel Prinz Heinrich vorüber; ›Gretz hat vergessen, die Blutflecken vom Trottoir abzuwaschen‹; Keilerblut war hart und schwarz geworden;
    ›Kind, es ist halb zehn, jetzt gehst du besser schlafen; gute Nacht‹; Kuß auf die Stirn; immer freundlich, immer korrekt;
    ›möchtest du lieber, daß wir eine Haushälterin nehmen, oder bist
    du das Wirtshausessen noch nicht leid?; offen gestanden, ich mag nicht gern fremde Personen im Hause‹; Frühstück, Tee, Brötchen, Milch; Kuß auf die Stirn; und manchmal ganz leise:
    ›Kind, Kind.‹ ›Was ist denn Vater?‹ ›Komm, wir fahren weg.‹
    ›Jetzt, hier, sofort?‹ ›Ja. Laß die Schule für heute und morgen,
    wir fahren nicht weit; nur bis Amsterdam; herrliche Stadt, Kind, stille, sehr freundliche Menschen - man muß sie nur kennen. Kennst du sie?‹ ›Ja, ich kenne sie. Schön, die Spaziergänge abends an den Grachten entlang.‹ ›Glas. Glas. Still. Hörst du, wie still die Menschen hier sind? Nirgendwo sind sie so laut wie bei uns, immer brüllen, schreien, wichtig tun. Langweilt es dich, wenn ich noch zum Billard gehe? Geh mit, wenn es dir Spaß macht.‹
    Ich verstand nie die Faszination, mit der ihm alte und junge

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