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Billard Um Halb Zehn: Roman

Billard Um Halb Zehn: Roman

Titel: Billard Um Halb Zehn: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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leg deinen Kopf in meinen Schoß, steck dir eine Zigarre an, hier, die Kaffeetasse in Reichweite deiner Hände; schließ die Augen; Klappe runter, weg, den Kalender ausgelöscht, wir wollen die Litanei des Weißt-du-noch? abbeten, uns der Jahre erinnern, als wir draußen in Blessenfeld wohnten, wo es jeden Abend nach Feierabend roch, nach Volk, das sich in
    Fischbratküchen sättigte, an Reibekuchenbuden und Eiskarren; selig, die mit den Fingern essen dürfen; ich durfte es nie, solange ich zu Hause lebte; du hast es mir erlaubt; da dudelten die Drehorgeln, kreischten die Karussells, und ich roch es, hörte es, spürte es, daß nur die Vergänglichkeit Dauer hat; du hattest mich aus diesem schrecklichen Haus erlöst, wo sie seit vierhundert Jahren hockten und vergebens sich zu befreien suchten; an Sommerabenden saß ich oben auf dem Dachgarten, wenn sie unten im Garten saßen und Wein tranken: Herrenabende, Damenabende, und ich hörte im schrillen Lachen der Frauen, was ich im gröhlenden der Männer hörte: Verzweiflung; wenn der Wein die Zungen löste, die Tabus befreite, wenn der Geruch des Sommerabends sie aus dem Gefängnis der Heuchelei erlöste, wurde es offenkundig: sie waren weder reich noch arm genug, das einzige Dauerhafte zu entdecken: Vergänglichkeit; ich sehnte mich nach ihr, während ich fürs Unvergängliche erzogen wurde: Ehe, Treue, Ehre, Schlafzimmer, wo es nur Pflicht, keine Kür gab; Ernst, Bauwerke, Staub in Strukturen verwandelt, und es klang mir im Ohr, wie der Lockruf des murmelnden Flusses bei Hochwasser: wozuwozuwozu? ; ich wollte an ihrer Verzweiflung nicht teilhaben, nicht von dem dunklen Erbe kosten, das sie von Geschlecht zu Geschlecht weiterreichten; ich sehnte mich nach dem weißen, leichten Sakrament des Lammes und versuchte, mir beim Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa die uralte Erbschaft der Dunkelheit und der Gewalt aus der Brust herauszuklopfen; legte, wenn ich aus der Messe kam, mein Gebetbuch in der Diele ab, kam gerade früh genug, um Vaters Begrüßungskuß zu empfangen; sein dröhnender Baß entfernte sich über den Hof zum Kontor hin: fünfzehn war ich, sechzehn, siebzehn, achtzehn und sah in den Augen meiner Mutter das harte Lauern: sie war den Wölfen vorgeworfen worden, sollte ich etwa davon verschont bleiben? Sie wuchsen schon heran, die Wölfe, Biertrinker, Mützenträger, hübsche und weniger
    hübsche; ich sah ihre Hände, ihre Augen und war mit dem schrecklichen Fluch beladen, zu wissen, wie sie mit vierzig, mit sechzig aussehen würden; violette Adern in ihrer Haut, und sie würden nie nach Feierabend riechen; ernst, Männer, Verantwortung; Gesetze hüten, Kindern Geschichte beibringen: Münzen zählen, zu politischer Vernunft entschlossen; sie waren alle dazu verdammt, vom Sakrament des Büffels zu kosten, wie meine Brüder; jung waren sie nur an Jahren, und es gab für sie alle nur eins, das ihnen Glanz versprach, ihnen Größe verleihen, sie in mythischen Dunst hüllen würde: den Tod; Zeit war nur ein Mittel, sie ihm entgegen zu tragen; sie schnupperten danach, und alles, was danach roch, war ihnen gut; sie rochen selbst danach: Verwesung; sie hockte im Haus, in den Augen derer, denen ich vorgeworfen werden sollte: Mützenträger, Gesetzeshüter; nur eins war verboten: leben wollen und spielen. Verstehst du mich, Alter? Spiel galt als Todsünde; nicht Sport, den hätten sie geduldet; das hält lebendig, macht anmutig, hübsch, steigert den Appetit der Wölfe; Puppenstuben: gut; das fördert die hausfraulichen und mütterlichen Instinkte; tanzen: auch gut; das gehört zum Markt; aber wenn ich für mich ganz allein tanzte, im Hemd oben in meinem Zimmer: Sünde, weil es nicht Pflicht war; da konnte ich mich getrost auf Bällen von Mützenträgern betasten lassen, im Dunkel des Flures, durfte sogar im Waldesdunkel nach Landpartien nicht allzu gewagte Zärtlichkeiten dulden; wir sind ja nicht prüde; ich betete um den, der mich erretten, vom Tode im Wolfszwinger erlösen würde, ich betete und nahm das weiße Sakrament drauf und sah dich im Atelierfenster drüben; wenn du wüßtest, wie ich dich liebte, wenn du es ahnen könntest, würdest du nicht die Augen aufschlagen, mir den Kalender entgegenhalten und mir erzählen wollen, wie groß meine Enkel inzwischen geworden sind, daß sie nach mir fragen, mich nicht vergessen haben. Nein, ich will sie nicht sehen; sie lieben mich, ich weiß, und ich weiß, daß es eine Möglichkeit gab, den Mördern zu entrinnen:

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