Billard Um Halb Zehn: Roman
hier offenbar nicht zu den Formalitäten gehörte; Schrella schwieg verlegen, nahm seine Zigarette aus der rechten in die linke Hand und blinzelte Nettlinger an.
Die Mauern dieses Hofes, den Himmel darüber, hatten Ferdis Augen als letztes von dieser Erde gesehen, vielleicht war die Stimme des Direktors die letzte menschliche Stimme gewesen, die er hörte, auf diesem Hof, der eng genug war, um von Nettlingers Zigarrenaroma ganz erfüllt zu sein; die schnuppernde Nase des Direktors sagte: Mein Gott, von Zigarren hast du immer was verstanden, das muß man dir lassen.
Nettlinger nahm die Zigarre nicht aus dem Mund. »Du hättest dir die Abschiedsrede sparen können. Also Dank und auf Wiedersehen.«
Er faßte Schrella bei den Schultern, schob ihn auf das innere Tor zu, das sich vor ihnen öffnete; langsam schob Nettlinger Schrella auf das äußere Tor zu; Schrella blieb stehen, gab dem Beamten seine Papiere; der verglich sie genau, nickte und öffnete das Tor.
»Da ist sie also«, sagte Nettlinger lachend, »die Freiheit. Drüben steht mein Auto, sag mir nur, wohin ich dich bringen soll.«
Schrella überquerte an Nettlingers Seite die Straße, zögerte, als ihm der Chauffeur die Autotür aufhielt. »Los«, sagte Nettlinger, »steig doch ein.«
Schrella nahm den Hut ab, stieg ins Auto, setzte sich, lehnte sich zurück und blickte Nettlinger an, der nach ihm einstieg und in seine Nähe rückte.
»Wohin möchtest du gebracht werden?«
»Zum Bahnhof«, sagte Schrella.
»Hast du Gepäck dort?«
»Nein.«
»Willst du diese gastliche Stadt etwa schon wieder verlassen?« fragte Nettlinger. Er beugte sich vor, rief dem Chauffeur zu: »Zum Hauptbahnhof.«
»Nein«, sagte Schrella, »ich will diese gastliche Stadt noch nicht verlassen. Du hast Robert nicht erreicht?«
»Nein«, sagte Nettlinger, »der macht sich rar. Den ganzen Tag hab ich versucht, ihn zu erreichen, er hat sich aber gedrückt, und als ich ihn im Hotel Prinz Heinrich fast erwischt hatte, ist er durch einen Nebenausgang verschwunden; ich habe seinetwegen höchst peinliche Dinge erleben müssen.«
»Du hast ihn auch vorher nie getroffen?«
»Nein«, sagte Nettlinger, »nicht ein einziges Mal; er lebt ganz zurückgezogen.«
Das Auto hielt vor einer Verkehrsampel. Schrella nahm seine Brille ab, wischte sie mit seinem Taschentuch und neigte sich nahe ans Fenster.
»Es muß dir doch merkwürdig vorkommen«, sagte Nettlinger,
»nach so langer Zeit und unter solchen Umständen wieder in
Deutschland zu sein; du wirst es nicht wiedererkennen.«
»Ich erkenne es sogar wieder«, sagte Schrella, »ungefähr, wie man eine Frau wiedererkennt, die man als Mädchen geliebt hat
fett geworden; talgige Drüsen; offenbar hat sie einen nicht nur reichen, sondern auch fleißigen Mann geheiratet; Villa am Stadtrand, Auto, Ringe an den Fingern, die frühere Liebe wird unter solchen Umständen unvermeidlicherweise zu Ironie.«
»Natürlich sind solche Bilder ziemlich schief«, sagte Nettlinger.
»Es sind Bilder«, sagte Schrella, »und wenn du dreitausend davon hättest, sähst du vielleicht ein Zipfelchen von der Wahrheit.«
»Es scheint mir auch zweifelhaft, ob deine Optik die richtige ist: vierundzwanzig Stunden erst im Lande, davon dreiundzwanzig im Gefängnis.«
»Du glaubst gar nicht, wieviel man im Gefängnis über ein Land erfahren kann; das häufigste Delikt in euren Gefängnissen ist Betrug; Selbstbetrug wird ja leider nicht als kriminell geahndet; vielleicht weißt du noch nicht, daß ich von den letzten zweiundzwanzig Jahren vier im Gefängnis verbracht habe?«
Das Auto fuhr langsam in einer langen Schlange los, die sich hinter der Ampel gebildet hatte.
»Nein«, sagte Nettlinger, »das wußte ich nicht. In Holland?«
»Ja«, sagte Schrella, »und in England.«
»Für welches Vergehen?«
»Affekthandlungen aus Liebeskummer, aber keineswegs aus Idealismus, sondern weil ich etwas Wirkliches bekämpfte.«
»Darf man Genaueres wissen?« fragte Nettlinger.
»Nein«, sagte Schrella, »du würdest es nicht verstehen und es wie ein Kompliment annehmen.
Ich bedrohte einen holländischen Politiker, weil er gesagt hatte, man müßte alle Deutschen umbringen, einen sehr beliebten Politiker; dann ließen die Deutschen mich frei, als sie Holland besetzten, und glaubten, ich sei eine Art Märtyrer für
Deutschland, fanden aber dann meinen Namen auf der
Fahndungsliste, und ich floh vor ihrer Liebe nach England; dort bedrohte ich einen englischen Politiker,
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