Billard Um Halb Zehn: Roman
rührend war der Zug; der Bahnhofsvorsteher trat aus dem Dienstraum, mit seinem Wochenendlächeln auf dem Gesicht.
»Hierher, Vater, hierher«, rief Ruth; ihre grüne Mütze, ihre winkenden Arme, der rosarote Flaum ihres Pullovers; sie hielt ihrem Großvater die Hände entgegen, half ihm auf die Plattform hinauf, umarmte ihn, schob ihn vorsichtig in die offene Abteiltür, zog ihren Vater hoch, küßte ihn auf die Wange.
»Ich freue mich schrecklich«, sagte sie, »wirklich schrecklich auf Sankt Anton und auf heute abend.«
Der Bahnhofsvorsteher pfiff und winkte dem Zug zur Abfahrt.
7
Als sie an den Schalter traten, nahm Nettlinger die Zigarre aus dem Mund und nickte Schrella ermunternd zu; der Schalter wurde von innen hochgeschoben, ein Aufseher mit einer Liste beugte sich vor und fragte: »Sind Sie der Häftling Schrella?«
»Ja«, sagte Schrella.
Der Aufseher rief die Gegenstände, so wie er sie aus einem Karton nahm, auf, legte sie auf die Theke.
»Eine Taschenuhr, Nickel, ohne Kette.«
»Eine Geldbörse, schwarzes Leder, mit Inhalt: fünf englische Schillinge, dreißig belgische Franken, zehn deutsche Mark und achtzig Pfennig.«
»Eine Krawatte, Farbe grün.«
»Ein Kugelschreiber, ohne Marke, Farbe: grau.«
»Zwei Taschentücher, weiß.«
»Ein Mantel, Trenchcoat.«
»Ein Hut, Farbe: schwarz.«
»Ein Rasierapparat, Marke: Gilette.«
»Sechs Zigaretten, Marke: Belga.«
»Hemd, Unterwäsche, Seife und Zahnbürste hatten Sie behalten, nicht wahr? Bitte unterschreiben Sie hier und bestätigen mit Ihrer Unterschrift, daß nichts von Ihrem Privateigentum fehlt.«
Schrella zog seinen Mantel an, steckte seine Habseligkeiten in die Tasche, unterschrieb die Liste: 6. September 1958, 15.3o Uhr.
»Gut«, sagte der Aufseher und zog den Schalter herunter. Nettlinger steckte die Zigarre wieder in den Mund, berührte
Schrellas Schulter: »Komm«, sagte er, »hier geht's raus, oder
möchtest du wieder ins Kittchen rein? Vielleicht bindest du die Krawatte besser schon um.«
Schrella steckte sich eine Zigarette in den Mund, rückte seine Brille zurecht, klappte den Hemdkragen hoch und legte die Krawatte ein; er erschrak, als Nettlinger ihm plötzlich das Feuerzeug vor die Nase hielt.
»Ja«, sagte Nettlinger, »das ist bei allen Häftlingen gleich, ob hohe oder niedrige, ob schuldige oder unschuldige, arme oder reiche, politische oder kriminelle; zuerst die Zigarette.« Schrella zog den Zigarettenhauch tief ein, blickte über die Brillengläser hinweg Nettlinger an, während er seine Krawatte band, den Hemdkragen wieder herunterklappte.
»Du hast Erfahrung in solchen Dingen, wie?«
»Du nicht?« fragte Nettlinger. »Komm, den Abschied vom Direktor kann ich dir leider nicht ersparen.«
Schrella setzte seinen Hut auf, nahm die Zigarette aus dem Mund und folgte Nettlinger, der ihm die Tür zum Hof aufhielt; der Direktor stand vor der Menschenschlange am Schalter, wo die Erlaubnisscheine für den Sonntagsbesuch ausgegeben wurden; der Direktor war groß, nicht zu elegant, aber solide gekleidet, seine Arm- und Beinbewegungen wirkten betont zivil, als er auf Nettlinger und Schrella zukam.
»Ich hoffe«, sagte er zu Nettlinger, »es ist alles zu deiner Zufriedenheit abgelaufen, schnell und korrekt.«
»Danke«, sagte Nettlinger, »es ging wirklich rasch.«
»Schön«, sagte der Direktor, wandte sich Schrella zu: »Sie werden mir verzeihen, wenn ich Ihnen zum Abschied einige Worte sage, obwohl Sie nur einen einzigen Tag zu meinen« - er lachte - »Schützlingen gehörten, und obwohl Sie irrtümlich anstatt in die Untersuchungs- in die Strafabteilung geraten sind. Sehen Sie«, sagte er und deutete auf das innere Gefängnistor,
»jenseits dieses Tores erwartet Sie ein zweites Tor, und jenseits dieses zweiten Tores erwartet Sie etwas Großartiges, das unser
aller höchstes Gut ist: die Freiheit. Mag der Verdacht, der auf Ihnen ruhte, berechtigt oder unberechtigt gewesen sein, Sie haben« - er lachte wieder - »in meinen gastlichen Mauern das Gegenteil von Freiheit kennengelernt. Nutzen Sie Ihre Freiheit. Wir sind zwar alle nur Gefangene, Gefangene unseres Leibes, bis zu dem Tage, da unsere Seele frei wird und sich zu ihrem Schöpfer erhebt, aber die Gefangenschaft innerhalb meiner gastlichen Mauern ist nicht nur eine symbolische. Ich entlasse Sie zur Freiheit, Herr Schrella...«
Schrella streckte verlegen seine Hand hin, zog sie aber rasch zurück, da er am Gesicht des Direktors bemerkte, daß ein Händedruck
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