Billard Um Halb Zehn: Roman
hereinkommt, ist nicht besser als die, die wir drinhaben.«
»Danke«, sagte Schrella; er sah Nettlinger an, nahm seine Zigarette von der linken in die rechte, von der rechten in die linke Hand. »Hör mal«, sagte er, »der Ball, den Robert damals schlug, ist er eigentlich je gefunden worden - du erinnerst dich?«
»Ja«, sagte Nettlinger, »natürlich erinnere ich mich gut, weil später soviel darüber geredet wurde; sie haben den Ball nie gefund en; sie suchten an diesem Abend bis spät in die Nacht, sogar am nächsten Tag, obwohl es ein Sonntag war; es ließ ihnen keine Ruhe; jemand behauptete später, es sei nur ein Trick von Robert gewesen, er habe den Ball gar nicht geschlagen, sondern nur das Geräusch des Schlagens nachgeahmt und den
Ball dann verschwinden lassen.«
»Aber sie haben doch alle den Ball gesehen, oder nicht - wie er flog?«
»Natürlich, niemand hat dieses Gerücht geglaubt; andere sagten, er sei in den Brauereihof gefallen, auf einen Bierwagen, der dort wartete, vielleicht erinnerst du dich, daß kurz darauf ein Wagen ausfuhr.«
»Es war vorher, lange bevor Robert schlug«, sagte Schrella.
»Ich glaube, du irrst«, sagte Nettlinger.
»Nein, nein«, sagte Schrella, »ich stand dort und wartete und beobachtete alles genau; der Wagen fuhr aus, bevor Robert schlug.«
»Na, gut«, sagte Nettlinger -; »jedenfalls wurde der Ball nie gefunden. Wir sind am Bahnhof - willst du dir wirklich nicht helfen lassen?«
»Nein, danke, ich brauche nichts.«
»Darf ich dich wenigstens zum Essen einladen?«
»Gut«, sagte Schrella, »gehen wir essen.«
Der Chauffeur hielt die Tür auf, Schrella stieg als erster aus, wartete mit den Händen in der Tasche auf Nettlinger, der seine Aktentasche vom Sitz nahm, seinen Mantel zuknöpfte und zum Chauffeur sagte: »Bitte, holen Sie mich gegen halb sechs am Hotel Prinz Heinrich ab.« Der Chauffeur legte die Hand an die Mütze, stieg ein und setzte sich ans Steuer.
Schrellas Brille, die abfallenden Schultern, der merkwürdig lächelnde Mund, das blonde Haar, ungelichtet, nur mit einem leichten silbernen Schimmer, immer noch nach hinten gekämmt; die Bewegung, mit der er sich den Schweiß abwischte, dann das Taschentuch wieder in die Tasche steckte: Schrella schien unverändert, kaum um ein paar Jahre gealt ert.
»Warum bist du zurückgekommen?« fragte Nettlinger leise. Schrella blickte ihn an, blinzelnd, wie er es immer getan hatte, mit den Zähnen an der Unterlippe nagend; in der rechten Hand
die Zigarette, in der linken den Hut; er blickte Nettlinger lange an und wartete, wartete immer noch vergebens auf das, wonach er sich seit mehr als zwanzig Jahren sehnte: Haß; nach dem handgreiflichen, den er sich immer gewünscht hatte; jemand ins Gesicht schlagen oder in den Hintern treten, dabei rufen: ›Du Schwein, du elendes Schwein!‹ Er hatte immer die Menschen beneidet, die zu solch einfachen Gefühlen fähig waren, aber er konnte in dieses runde, verlegen lächelnde Gesicht nicht hineinschlagen und nicht in diesen Hintern treten; auf der Schultreppe das Bein gestellt, so daß er hinstürzte, sich ihm die Bügel der Brille ins Ohrläppchen bohrten; auf dem Heimweg überfallen, in Hauseingänge geschleppt und verprügelt; mit der Stacheldrahtpeitsche geschlagen, Robert und ihn; verhört; schuld an Ferdis Tod - und Edith geschont, Robert freigelassen.
Er blickte von Nettlinger weg auf den Bahnhofsvorplatz, wo es von Menschen wimmelte; Sonne, Wochenende, wartende Taxis und Eisverkäufer, Hotelboys in violetten Uniformen schleppten Koffer hinter Gästen her; die graue hoheitsvolle Fassade von Sankt Severin, Hotel Prinz Heinrich, Cafe Kroner; er erschrak, als Nettlinger plötzlich davonlief, sich in die Menschenmenge stürzte, mit den Armen fuchtelnd, rufend:
»Hallo, Fräulein Ruth...«, dann kam er zurück, schüttelte den Kopf. »Hast du das Mädchen gesehen?« fragte er, »die mit der
grünen Mütze und dem rosaroten Pullover; sie ist auffallend hübsch - es war Roberts Tochter. Ich habe sie nicht mehr erwischt; sie hätte uns sagen können, wo wir ihn finden. Schade
hast du sie gesehen?«
»Nein«, sagte Schrella leise, »Ediths Tochter.« »Natürlich«, sagte Nettlinger, »deine Nichte. Verflucht - nun, gehen wir essen.«
Er ging über den Bahnhofsvorplatz, überquerte die Straße; Schrella folgte ihm zum Hotel Prinz Heinrich; ein Boy in violetter Uniform hielt die Tür auf, die hinter ihnen in die Filzfugen zurückpendelte.
»Fensterplatz?«
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