Billard um halbzehn
Quittung zurückgeben, die roten Siegel erbrechen und vernichten sollen, dann brauchte ich nicht hier zu stehen und auf meine Enkelin zu warten, die hübsche, schwarzhaarige, neunzehn Jahre alte, so alt wie Johanna war, als ich vor einundfünfzig Jahren hier oben stand und sie drüben auf dem Dachgarten sah; ich konnte den Buchtitel erkennen: Kabale und Liebe - oder ist es Johanna, die jetzt drüben Kabale und Liebe liest; ist sie wirklich nicht da, mit Robert immer noch im Löwen beim Mittagessen; hab ich in die Pförtnerloge die obligatorische Zigarre gelegt, bin dem vertraulichen UnterMännern-Herr- Leutnant-Gespräch entronnen, um hier oben von halb elf bis fünf zu hocken, nur dazusein; bin an Bücherstapeln, an Stapeln frischgedruckter Bistumsblättchen vorbei hier heraufgestiegen; was wird denn samstags nachmittags noch auf weißes Papier gedruckt; Erbauliches oder Wahlplakate für alle die, die vom Sakrament des Büffels gekostet haben? Da beben die Wände, zittern die Stufen, bringen Arbeiterinnen immer neue Stapel, häufen sie bis vor die Ateliertür. Ich lag hier oben, übte mich in der Kunst, nur dazusein; trieb dahin wie im Sog eines schwarzen Windkanals, der mich hinausschleudern würde; wohin? wurde in uralter Bitterkeit dahingewirbelt, getränkt mit uralter Vergeblichkeit, sah die Kinder, die ich haben, die Weine, die ich trinken, die Krankenhäuser und Kirchen, die ich bauen würde - und hörte immer die Erdklumpen auf meinen Sarg fallen, dumpfe Trommelgeräusche, die mich verfolgten; ich
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hörte den Gesang der Einlegerinnen und der Falzerinnen und Packerinnen, hell die einen, dunkel, süß und spröde die ändern; sie besangen die einfachen Freuden des Feierabends; es drang wie mein Grabgesang zu mir hin: Liebe im Tanzlokal, wehes Glück an der Friedhofsmauer, im herbstlich duftenden Gras; alter Mutter Tränen als Vorboten junger Mutter Freuden, Waisenhausmelancholie, wo ein tapferes junges Mädchen rein zu bleiben beschloß; doch traf es auch sie, traf sie im Tanzlokal; wehes Glück an der Friedhofsmauer, im herbstlich duftenden Gras - immer wieder griffen die Stimmen der Arbeiterinnen wie Schöpfräder ins ewig gleiche Wasser, sie sangen es mir zum Grabgesang, während Erdklumpen auf meinen Sarg polterten.
Ich blickte unter den Augenlidern hervor auf die Wände meines Ateliers, die ich mit Zeichnungen tapeziert hatte: majestätisch in der Mitte die rötliche Lichtpause, i: 200, die Abtei Sankt Anton; im Vordergrund der Weiler Stehlingers Grotte, weidende Kühe, ein abgeernteter Kartoffelacker, von dem der Rauch eines Feuers hochstieg; dann die Abtei, gewaltig, im Basilikastil, rücksichtslos hatte ich sie romanischen Kathedralen nachgebildet, den Kreuzgang streng, niedrig und dunkel; Klausur, Refektorium, Bibliothek; in der Mitte des Kreuzgangs die Figur des heiligen Antonius; das große Geviert mit den landwirtschaftlichen Gebäuden; Scheune, Ställe, Wagenremisen, eigene Mühle mit Bäckerei, ein hübsches Wohnhaus für den Ökonom, der auch die Pilger zu betreuen hatte; da standen unter hohen Bäumen einfache Tische und Stühle, auf denen die Wegzehrung zu herbem Wein, zu Most oder Bier verzehrt werden konnte; am Horizont angedeutet der zweite Weiler: Görlingers Stuhl; Kapelle, Friedhof, vier Bauernhöfe, weidende Kühe; Pappelreihen grenzten rechts das gerodete Land ab, wo dienende Mönche Wein pflanzen, wo Kohl und Kartoffeln, Gemüse und Getreide wachsen, in Bienenstöcken der köstliche Honig gesammelt werden würde.
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Abgegeben vor zwanzig Minuten, gegen Quittung; Entwurf mit Detailzeichnungen und einer kompletten Kalkulation; mit scharfer Feder hatte ich Ziffern und Positionen hingeschrieben; mit blinzelnden Augen, als sähe ich die Gebäude dort wirklich liegen, blickte ich wie durch ein Fenster auf den Entwurf; da bückten sich Mönche, tranken Pilger Most, während die singenden Arbeiterinnen unten mit Stimmen, die den Feierabend begehrten, hell und dunkel, ihren Grabgesang zu mir heraufschickten; ich schloß die Augen, spürte die Kälte, die ich fünfzig Jahre später erst würde spüren können, als gemachter Mann, von wimmelndem Leben umgeben.
Diese viereinhalb Wochen waren unendlich lang gewesen, alles was ich tat, hatte ich vorher in Traumkabinetten geregelt; blieb nur die Messe am Morgen, blieben die Stunden von halb elf bis fünf; ich begehrte das Unvorhergesehene, das mir nur ein winziges Lächeln, zweimal ein ›Viel Glück, Herr Fähmel‹
beschert hatte.
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