Bille und Zottel 01 - Pferdeliebe auf den ersten Blick
gebrochen. Aber wo waren Mutsch und Onkel Paul — lagen sie am Ende irgendwo draußen, mit gebrochenen Gliedmaßen? Sie mußte sofort Karlchen holen.
In der Tür stieß sie mit Helga zusammen. „Wo bleibst du denn mit den Gläsern? Schnell!“
„Keine Zeit“, stammelte Bille und stürzte an ihr vorbei.
Vor dem Regal mit den Spirituosen mußte sie eine Vollbremsung machen, dort versperrten zwei Gestalten in weißen Mänteln ihr den Weg.
„Das Angebot an Schnäpsen ist viel zu reichlich, das werden wir reduzieren. Und an Babynahrung hast du gar nicht gedacht!“ hörte Bille sagen. Sie richtete sich auf.
„Mutsch, Onkel Paul — Gott sei Dank! Ich dachte schon . . .“ Bille seufzte erleichtert. Dann lächelte sie verschmitzt. „Es hat nicht zufällig einer von euch daran gedacht, Zottel anzubinden?“
Das Erntedankfest
Die Felder waren abgeerntet, im Park von Groß-Willmsdorf begannen die Bäume, sich bunt zu färben. Die Ferien lagen lange zurück. Seit Wochen herrschte wieder der Schultag über Billes Leben.
Noch wohnten sie in dem windschiefen, gemütlichen Häuschen, aber das Schaufenster war leer und an der Ladentür hing ein Schild mit der Aufschrift: „Wegen Geschäftsaufgabe geschlossen.“
Mutsch fuhr jeden Morgen nach Leesten hinüber und kam erst abends wieder zurück. Und Onkel Paul kümmerte sich inzwischen um eine neue Baustelle: sein eigenes Haus wurde umgebaut und erweitert, denn Weihnachten wollten Mutsch und er heiraten. Dann würden sie umziehen und Inge und Thorsten wollten damit beginnen, den Laden in eine Kunstschmiedewerkstatt umzugestalten.
Die ganze Familie schien köpf zu stehen: wo immer zwei von ihnen zusammen waren, wurden Baupläne studiert, über Möbel, Farben und Stoffe geredet, Preise verglichen und Pläne für die Hochzeit gemacht. Bille kam sich bei diesem Rummel höchst überflüssig vor.
Mutsch hatte weniger Zeit für sie denn je, mittags aß Bille das, was Mutsch am Abend vorgekocht hatte, dann verbrachte sie den Nachmittag bei den Pferden, und abends, wenn Mutsch und Onkel Paul zusammenhockten und über die gemeinsame Zukunft sprachen, verkroch sie sich hinter ihre Schulbücher, oder ging zu Karlchen hinüber.
Manchmal kam Helga mit nach Groß-Willmsdorf und Bille ließ sie auf Zottel reiten. An anderen Tagen half sie dafür Helga, die in einigen Fächern Schwierigkeiten hatte, bei den Hausaufgaben.
An zwei Tagen in der Woche lud Onkel Paul Bille zum Mittagessen in den Krug ein. Dann ließ er sich von ihren Schulerlebnissen und von Zottel erzählen. Aber Bille wurde das Gefühl nicht los, daß seine Gedanken ständig bei Mutsch waren, und es kam vor, daß sie sich nach der Zeit zurücksehnte, in der sie Mutsch ganz für sich allein gehabt hatte.
Im Reiten machte sie große Fortschritte.
Petersen, dem es immer beschwerlicher wurde, ein Pferd zu besteigen, nahm diejenigen seiner Schützlinge, die bewegt werden mußten, nur noch an die Longe.
Eines Tages — er führte gerade Patrick heraus — fragte er Bille: „Na, mein Deern, wie wär’s —hast du Mut?“
„Sie meinen, ich soll Patrick reiten? Ob das Herr Tiedjen erlaubt?“
„Das verantworte ich schon. Wird Zeit, daß wir eine zweite Kraft bekommen, die in Herrn Tiedjens Abwesenheit mit den
Pferden arbeitet. Schläft ja sonst alles ein hier. Ich kann’s nicht mehr —also sieh zu, daß du fix was lernst.“
„Sie meinen, das könnte ich?“
„Mit der Zeit — warum nicht? Das liegt ganz bei dir. Also? Denn man zu!“
„Ohne Steigbügel?“
„Ehrensache.“
Bille wurde ein bißchen mulmig, aber sie ließ es sich nicht anmerken. Petersen nahm sie an die Longe, nachdem sie mit seiner Hilfe etwas ungeschickt auf Patricks Rücken gelandet war. Aber ohne Steigbügel — daran mußte man sich erst mal gewöhnen.
Patrick war fast doppelt so groß wie Zottel. Das war schon ein anderes Gefühl, der Boden schien plötzlich weit entfernt, und Patricks Temperament ließ auch nicht zu wünschen übrig. Bille mußte sich erst auf seine kraftvollen, weitausgreifenden Schritte und Sprünge einstellen.
„Arme über den Kopf!“ kommandierte Petersen, oder „Arme seitwärts!“ Seine Zurufe knallten wie Schüsse über den Platz, Bille hätte dem stillen, gütigen Mann nie soviel Kraft und Energie zugetraut.
„Du bist steif wie ein Besenstiel, komm in die Mitte, jetzt wird erst mal ein bißchen Gymnastik gemacht!“
Er ließ sie den Oberkörper abwechselnd nach beiden Seiten schwingen, dann die
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