Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)
1 En passant mit meiner Mutter
D ie Sonne schien. Keine Wolken. Ich lief. Die Schultasche schlug mir beim Laufen gegen den Oberschenkel. Ich hatte gute Laune. Immer, wenn ich in den Straßen von St. Pauli unterwegs war, hatte ich gute Laune. Der Himmel über mir, der Asphalt unter mir. Die Häuser, die Menschen, der Geruch: St. Pauli, meine Freiheit. Ich sah die Menschen an den Bus- und Bahnhaltestellen. Die traurigen Gesichter, in denen sich die Ödnis ihres Lebens festgeschrieben hatte, machten mir Angst. Angst, dass mir auch solch ein Leben drohen könnte. Morgens: aufstehen, dann malochen. Abends: vor dem Fernseher mit einem Bier, dann ins Bett. Am nächsten Morgen wieder derselbe Stuss. Das ganze Leben lang. Ab und an mit der Frau, die zum besten Freund geworden ist, Liebe machen. Bumsen, ficken, vögeln, wie auch immer. Den kümmerlichen Rest des animalischen Triebs, der sich in einem erhalten hat, heimlich im Dunklen ausleben. Leise, vorsichtig, allein. Am Wochenende geht man zum Fußball oder in die Kneipe an der Ecke und kommt besoffen nach Hause, legt sich in die Kiste, schläft. Wenn das Leben dann endlich in Windeseile an einem vorbeigelaufen ist, sind’s am Ende Verachtung und Krankheit, die einen am Leben halten. Erst wird man fett, dann zieht die Schwerkraft mit Gewalt alle Jugendlichkeit nach unten, wirft Falten und schreit: »Hier – ich bin’s! Ich hab gelitten, jahrelang! Ich arme Sau!« Bis endlich der Deckel zufällt. Dann wird’s dunkel; und das Einzige, was man bereut, ist, was man versäumt hat im Leben. Dass man sein Leben nicht angepackt hat, als man noch jung war. Als man noch hungrig war.
Mir drehte sich der Magen um bei diesen Gedanken, die mich überfielen, wenn ich die Leute beobachtete, die das sogenannte normale Leben ertrugen.
Ich kam an die Reeperbahn. Ein weißer Mercedes stoppte, keine Ahnung, was für ein Modell es war. Aber es war ein großer Mercedes. Ein großer Mercedes für große Jungs. Die Tür öffnete sich, und heraus trat ein hochgewachsener Typ mit Föhnwelle. Er trug eine rote Lederhose, dazu ein flatterndes weißes Hemd, das weit aufgeknöpft war, darüber ein schwarzes Jackett mit Schulterpolstern. Seine kräftigen Beine steckten in Wildlederstiefeln. Das offene Hemd gab den Blick auf eine kräftige, rotbraun gebrannte Brust frei. Eine goldene Cartier-Panzerkette schmückte den wulstigen Hals, klobige Goldringe zierten seine Finger, eine Sonnenbrille verbarg den Blick auf seine Augen. Unverkennbar ein Lude, ein großer Lude. Solche wie ihn sah man nur noch selten im St. Pauli der Achtziger. Mit weitaufgerissenen Augen stand ich da und beobachtete, wie dieser Lude über den Bordstein schwebte. Mit dieser unbeschreiblichen Leichtigkeit. Mit diesem gewinnenden Lächeln.
Damals musste keiner seine Muskeln mit Steroiden aufpumpen. Die Jungs, die was draufhatten, waren alle durch Kampfsport gestählt. Sie lebten die Lässigkeit. Sie waren nicht verbissen. Sie waren die Autorität auf der Bühne namens St. Pauli. Sie nahmen sich sogar selbst auf die Schippe, was ihr Selbstbewusstsein noch betonte. Alles war easy! Im Gegensatz zu der heutigen Gewaltfraktion auf dem Kiez mussten die Luden von früher keine Glatze tragen und ihre Tätowierungen am Hals präsentieren. Auch grölten sie nicht herum wie die Proleten. Man agierte souverän. Wenn man einen Tisch in einem Restaurant bestellte, reservierte man die Bedienung für den Abend gleich mit. Dafür bekam sie ein sehr gutes Trinkgeld. Natürlich wurde auch dem Türsteher mal ein Tausender in die Hand gedrückt. Dafür wurde dann der rote Teppich ausgerollt, wenn die Luden mit ihren Schlitten angerollt kamen. Jeder hatte was von dieser Show.
Schon früh eiferten wir den Luden nach. Wir trugen Jogginganzüge, weiße Boxerstiefel von Leone, Dauerwelle, Goldkettchen, dazu die obligatorischen Ray-Ban-Pilotenbrillen. Und natürlich Bomberjacken. Indianer Joe, ein Boutique-Besitzer auf der Reeperbahn, hatte sie für uns umgestylt und mit Lederapplikationen und Schulterpolstern versehen. So hingen wir auf der Reeperbahn ab.
Der Lude grüßte ein paar Typen, die ihm entgegenkamen. Ein Handschlag, ein kurzer Satz. Sein Mund verzog sich zu einem coolen, süßen Lächeln. Ich hatte mir schon als Kind gerne diese charismatischen Männer mit ihren Rolls-Royces, Ferraris oder Porsches angeschaut. Für mich waren sie die wahren Abenteurer und Gewinner auf St. Pauli. Nun stand ich da und kam mir wieder vor wie der kleine
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