Bille und Zottel 15 - Pferde im Schnee
angemessenem, männlich entschlossenem Gesichtsausdruck an seine Zimmerkameraden.
„Ihr steht Schmiere. Einer im Flur, einer im Treppenhaus und einer hier am offenen Fenster. Bei Gefahr pfeift ihr sofort, verstanden. Wenn der Giftzahn kommt: lang-kurz-lang.“
„Wenn der Giftzahn kommt, kann ich nicht mehr pfeifen, dann kriege ich so ein saures Gefühl im Mund“, gestand Christian. „Dann schreie ich lieber.“
„Untersteh dich! Du bleibst hier am Fenster, Michael im Flur und Robert im Treppenhaus. Haltet mir die Türen auf, wenn ich mit ihm zurückkomme.“
Rainer machte sich auf den Weg. Das Treppenhaus lag da wie ausgestorben. Leise öffnete er das Haustor und streckte den Kopf hinaus. Bis hierhin hatte er sich noch nicht besonders strafbar gemacht, doch das Haus zu verlassen war den Kindern streng verboten.
Auch draußen rührte sich nichts, überall herrschte Mittagsruhe. Bis die Mädchen mit Tee und Milch kamen, hatte er eine halbe Stunde Zeit. Und im Schwesternzimmer der Station saß die junge Schwester Babsi mit dem Lockenkopf und telefonierte mit ihrem Freund. Stundenlang, bis jemand kam, das tat sie immer um diese Zeit, wenn sie Dienst hatte. Sie war nett. Nie schimpfte sie, und manchmal konnte man mit ihr den herrlichsten Unsinn machen. Kissenschlachten zum Beispiel. Dabei stellten sie sich dann vor, der Giftzahn käme herein und kriegte ein Kissen an den Kopf. Schwester Babsi konnte den Giftzahn auch nicht leiden.
Rainer gab sich einen Ruck. Jetzt oder nie! Blitzschnell rannte er zu Zottel hinüber, streichelte ihm kurz über den Kopf, und mit den Worten: „Komm, ich zeig dir was Schönes!“ band er ihn los und zog ihn zum Haustor. Zottel folgte ihm interessiert.
Im Treppenhaus ging alles glatt. Zottel nahm die paar Stufen ohne Mühe und marschierte, mit geflüsterten Beschwörungen beruhigt, durch die von Robert und Michael eilfertig offengehaltene Glastür in die Station 7 der Kinderklinik. Der weiche Linoleumboden verschluckte Zottels Tritte.
„Hier, gleich erste Tür rechts“, raunte Rainer ihm zu.
In der Türfüllung wären sie fast steckengeblieben, weil Rainer sich zugleich mit seinem Gast hindurchzwängen wollte, aber es ging gerade noch mal gut.
Da stand er nun: Ein rotweiß geflecktes Pony im Krankenzimmer 11, umrundet von vier Jungen, die ihn zögernd betasteten und streichelten und nun eigentlich nicht mehr wußten, was sie mit ihm anfangen sollten. Das Heldenstück war gelungen, aber nun?
„Bringen wir ihn wieder raus“, sagte Robert, dem es unbehaglich wurde.
„Schon?“ fragte Christian enttäuscht. „Wir haben ihm ja noch gar nichts zu essen gegeben!“
„Wir haben ja auch nichts. Nichts, was er mag.“
„Aber vielleicht mag er das, was wir nicht mögen?“ meinte Christian hoffnungsvoll.
Über die Gesichter der drei anderen verbreitete sich ein hoffnungsvolles Grinsen. Rainer flitzte zu seinem Schrank und holte aus dem hintersten Winkel, was sie hatten verschwinden lassen: trockenen Zwieback, Knäckebrot, Plastiktüten mit salzlosem Gemüse und Reis und zahllose Becher mit Quark. Nach und nach hatten sie ihre gesammelten Reste auf die Toilette gemogelt und weggespült, aber man konnte immer nur einen kleinen Teil mitnehmen, um nicht aufzufallen. So befand sich jeweils eine Übersicht des dürftigen Speiseplans der letzten drei Tage in dem Versteck.
Zottel wählte sorgfältig unter den ihm angebotenen Gaben. Probierte hier, naschte dort und fand schließlich nur den Zwieback genießbar.
„Er hat einen fahren lassen“, bemerkte Michael naserümpfend.
Rainer kicherte. „Wundert dich das bei dem Fraß?“
„Nein. Mensch, er hebt den Schwanz so komisch, ich glaube, er will gleich was fallen lassen!“ quietschte Michael außer sich. „Tut doch was, schnell!“
„Die Bettschüssel!“ rief Rainer geistesgegenwärtig. In Krisensituationen wuchs er über sich hinaus. „Sie steht unten im Schrank, du Trottel!“ fuhr er Robert an, der unter den Betten suchte. „Beeilt euch!“
Robert und Michael stießen in der Schranktür schmerzhaft mit den Köpfen zusammen, während Christian blitzschnell unter ihnen wegtauchte und den verlangten Gegenstand Rainer in die Hand drückte. Gerade noch im rechten Augenblick schob er Zottel die Bettschüssel unter den angehobenen Schwanz.
Über all der Aufregung war ihnen entgangen, daß es draußen auf dem Flur unruhig geworden war. Sie hatten keinen Gedanken daran verschwendet, daß man auch in den Nachbarzimmern das
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