Bin Ich Schon Erleuchtet
Vielleicht kehre ich als Vegetarierin nach Hause zurück?
Bei dieser Vorstellung höre ich im Geiste meine Brüder in zehntausend Meilen Entfernung loswiehern. Sie bezeichnen sich mit Vorliebe als Fleisch-Junkies. In ihrem Ernährungsplan ist alles verboten außer Fleisch und Butter und das, was man in Butter tauchen oder darin ersäufen kann. Jessica würde wahrscheinlich in Ohnmacht fallen, wenn sie bei ihnen am Tisch säße.
Im Moment schläft sie neben mir. Wir teilen uns das riesige Doppelbett, in dem eine ganze Familie Platz hätte. Sie liegt auf dem Rücken, den Kopf zwischen zwei Kissen geklemmt, damit ihre Wirbelsäule ausgerichtet ist.
Ich will nicht schlafen. Die Dunkelheit hier ist so schwer und warm und das Moskitonetz lenkt mich ab. Es erinnert mich an die Burgen, die meine Geschwister und ich als Kinder bauten. Ich fühle mich, als müsste ich Häschen-Pyjamas anhaben. Wie soll ich schlafen? Unter einem Baldachin zu liegen ist so aufregend. Und ich bin in bester Gesellschaft. Bali ist hellwach, genau wie ich.
Grillen. Frösche. Hunde. Ein Hahn – ist es nicht ein bisschen zu früh für einen Hahn? Die Geräusche der Frauen, die ihre Gamelan-Instrumente einpacken. Ein Klirren, ein Gong, Stimmen. Es ist perfekt. Viel schöner, als ich es mir vorgestellt habe.
Ich frage mich, was die Leute zu Hause wohl machen. Jonah – ist er bei der Arbeit? In seiner Wohnung? Gott weiß, wie spät es dort ist. Oder denkt er an mich, schickt er seine Gedanken zu mir auf diese Insel, von deren Existenz ich bis vor einem Jahr kaum etwas wusste und wo ich für niemanden Verantwortung trage außer für mich selbst? Ich bin komplett auf mich allein gestellt.
25. Februar
Vormittag
Es ist sieben Uhr. Ich bin früh um sieben Uhr aufgestanden. Das ist unglaublich. Ich wünschte, ich könnte nach Hause telefonieren und allen zurufen: SEHT IHR? ICH KANN FRÜH AUFSTEHEN!
Zugegeben, der fiese Jetlag spielt vielleicht auch eine Rolle.
In zwei Stunden fängt der Unterricht an. Ich sitze auf unserer gefliesten Veranda und beobachte Jessica. Ich esse Papaya mit Limone und trinke Ingwertee, obwohl es hier draußen ungefähr tausend Grad hat. Kaffee wäre genial, aber Indra hat mir vor meiner Abreise aus Seattle gesagt, dass ich mich auf eine zweimonatige »Reinigungsphase« einstellen soll. Das bedeutet: kein Kaffee, kein Zucker, kein Alkohol und kein Fleisch.
Oh ja, richtig, und kein Sex. Ich sagte zu Indra, das sei kein Problem, weil mein Freund ja zu Hause bleibt, und sie sah mich komisch an und sagte: »Überhaupt kein Sex. Du kannst deine eigenen Batterien ebenso leicht entladen wie die von jemand anderem!«
Ausrufungszeichen!
Jessica sitzt mit geschlossenen Augen im Lotossitz am Rand der Veranda, den Kopf in den Nacken gelegt. Sie drückt einen großen Starbucks-Thermobecher gegen die Brust, und alle paar Minuten senkt sie das Kinn und nippt daran. Dann hebt sie das Gesicht wieder der Sonne entgegen und lächelt versonnen, als würde sie beten.
Ich kann es ihr nicht verdenken. Dass sie diesen Ort anbetet, meine ich. Allerdings will ich die Augen nicht schließen. Ich will nicht einmal blinzeln, ich will alles in mich aufnehmen. Die Aussicht ist spektakulär: Palmen, Papayabäume, ein Stück des türkisblauen Pools. Als ob man in einem schimmernden Smaragd-Heiligtum frühstückt.
Links von der Veranda steht ein kleiner Tempel mit der Skulptur eines winzigen, geschlechtslosen Gottes, der sanftmütig zu uns herüberlächelt. Es sieht fast so aus, als ob der Gott und Jessica einander zulächeln. Als hätten die beiden ein Geheimnis.
Ich habe Jessica gefragt, ob sie es schlimm fände, wenn ich mir morgens einen Kaffee gönne. Sie hat ja gesagt. Und das ist noch eine Untertreibung. Sie hat reagiert, als hätte ich angedeutet, ich könnte mir vorstellen, vor dem Unterricht Koks zu schnupfen.
»Kein Ding«, quetschte ich hervor, es klang wie ein heiseres Röcheln. Bei dem Gedanken an einen Tag ohne Kaffee wurde mir die Kehle so eng wie sonst nur kurz vor einem Heulkrampf. Aber das war vor fünfzehn Minuten. Jetzt geht es mir schon besser. Glaube ich wenigstens.
Oh, shit. Oh mein Gott. Oh nein, wie krass. Ich hatte gerade eine von diesen stacheligen Lychees aus der Schüssel gefischt, weil ich dachte, vielleicht könnte etwas Fruchtzucker das Koffein ersetzen, und gerade als ich überlegte, wie man sie schält, kribbelte etwas auf meinem Unterarm, und ich sah diese rötlich-braunen Ameisen, die in einer Kolonne von der
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