Bin Ich Schon Erleuchtet
Lychee zu meiner Achselhöhle hochmarschierten.
Erst jetzt fällt mir auf, dass die Früchte in einer Ameisensuppe schwimmen.
Ich kann nicht aufhören, echte und imaginäre Ameisen von meinem Arm zu wischen. Vom Fußboden über das Tischbein führt eine ununterbrochene Ameisenstraße aufwärts, als wollten die Biester ins Heilige Land der Lychees pilgern.
Das einzig Gute an diesen Ameisen ist, dass sie mich von meiner Nervosität ablenken. Nur noch eine Stunde bis zum Unterrichtsbeginn. Bitte, lieber Gott, lass alles gutgehen.
Abend
Oh nein. Oh, Gott. Oh, Himmel. Oh, ist das übel. Ich weiß nicht mal, wie ich es ausdrücken soll.
Moment mal. Stopp. Ich weiß, wie man es ausdrückt. Sie sind eine Sekte. Eine Sekte!
Immerhin trinken sie keine vergiftete Limonade.
Shit, Jessica kommt. Ich muss los. Ich weiß, was in ihrem Starbucks-Becher ist. Nichts wie weg hier.
Okay. Ich bin jetzt imstande, das aufzuschreiben. Ich bin aus dem Haus entwischt und sitze gut versteckt in einem kleinen Restaurant mit dem Namen Wayan’s Warung. Wayan ist eine große, dicke Frau mit ungefähr fünf Babys auf der Hüfte und einem dröhnenden Lachen. Ich wünschte, ich könnte ihr erzählen, warum ich hier so allein herumsitze.
Aber das gäbe Probleme beim Übersetzen.
Dabei hat heute alles so gut angefangen. Ich kam ein bisschen ängstlich zum Unterricht, aber ich freute mich darauf, Indra wiederzusehen. Ich hatte ein richtig gutes Gefühl.
Der Kurs fand in dem großen Holzpavillon statt, vor dem mich Ketut gestern abgesetzt hatte. Man nennt so etwas Wantilan. Er hat ein spitzes Dach, das wie ein Weidenkorb geflochten ist, und einen Panoramablick ringsum über grüne Felder und Wälder, so dass ich am liebsten mitten auf dem Holzfußboden stehen und mich wie ein Kreisel drehen würde. Auf einer Seite lagern die Gamelan-Instrumente der Frauen, tausend unterschiedliche Xylophone und Gongs, in rot und golden bemalten Holzrahmen. Wenn wir springen oder hinfallen, vibrieren und klingen sie minutenlang.
Indra und Lou erschienen händchenhaltend, von Kopf bis Fuß in fließendes, weißes Leinen gekleidet. Mir wurde auf einmal klar, dass ich sie noch nie zuvor als Paar gesehen hatte. Sie lächelten uns zu, dann lächelten sie sich gegenseitig an, und dann wieder uns. Ich war beeindruckt, wie ernst sie ihren Auftritt als Yogi und Yogini nahmen – ich müsste wahrscheinlich lachen, wenn ich so abgeklärt dreinschauen wollte.
Wir setzten uns im Kreis auf den Boden, Indra und Lou reihten sich ein. Indra hockte auf den Fersen, Lou saß im Schneidersitz. Indra blickte jedem Einzelnen aufmerksam ins Gesicht, bevor sie uns willkommen hieß. Als sie ihre großen braunen Augen auf mich richtete, konnte ich nicht anders – Gott, was bin ich für eine Idiotin –, ich grinste von einem Ohr zum anderen. Ich war so unwahrscheinlich erleichtert, sie zu sehen. Sie lachte.
Während Indra über die zwei vor uns liegenden Monate sprach, massierte Lou seinen Körper. Er knetete ununterbrochen an sich herum, entweder an den Zehen oder an den Fersen, an den Waden oder an den Hüften. Sogar an den Ohrläppchen. Ich hätte ihm gerne gesagt, er solle mal Ruhe geben und jemanden dafür engagieren. Jemanden wie Jessica! Aber er zupfte ungerührt weiter an seinen Zehenspitzen und schien uns nur am Rande wahrzunehmen.
Dann stellten wir uns im Kreis herum vor.
Lou sagte: »Ich freue mich auf unser gemeinsames Praktizieren. Es wird nicht leicht werden. Es wird hart werden.«
Er sagte noch mehr, aber das blieb hängen.
Indra sagte: »Ich freue mich so darauf, dass die Yogis und Yoginis in dieser wunderbaren Gruppe sich kennenlernen werden! Und Lou« – damit drehte sie sich strahlend zu ihm um – »was meinst du, wollen wir aus diesen Yogis in den nächsten beiden Monaten Yoga-Lehrer machen?«
Ich wäre am liebsten aufgesprungen und hätte laut gejubelt.
Als ich an der Reihe war, beglückte mich Indra mit der Aussage: »Alle mal herhören: Suzanne ist mein Pflänzchen! In Seattle bittet sie immer genau um das, was ich gerne weitergeben möchte. Was meinst du, Suzanne, bist du bereit, intensiv an der Mitte zu arbeiten?«
»Oh ja, unbedingt, die Mitte«, antwortete ich.
»Und wie geht es dir heute, Suzanne«, fragte Lou und ließ alle fünf Zehen nacheinander knacken.
»Oh, gut«, sagte ich. »Ein bisschen Stretching wäre nicht schlecht nach dem langen Flug von gestern.« Alle lachten, als hätte ich etwas sehr Wahres und Komisches von mir
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