Bin Ich Schon Erleuchtet
der Geschichte. »Wenn ihr das während eures Aufenthalts auf Bali jeden Tag macht, kann ich euch garantieren, dass ihr nicht mit schwarzer Zunge abreist.«
»Macht es für den Rest eures Lebens«, ergänzte Lou und fixierte uns durchdringend, »und euch wird mehr Gesundheit, Glück und, was am wichtigsten ist, eine tiefere Yoga-Praxis zuteilwerden.«
Heilige Mutter Gottes!
Meine Lehrer haben mich aufgefordert, mein Pipi zu trinken. Mich an meiner Pisse zu laben. Urin ist ein Getränk, sagen sie. Weil ich jahrelang Babys und Großeltern hinterhergeputzt habe, weiß ich, dass Urin kein Getränk ist. Urin ist Urin. Soll das womöglich ein Witz sein? Aber sie sahen nicht so aus, als würden sie Witze machen.
Anschließend ließen sich Indra und Lou über die geschmackliche Variante einer Mischung aus Obstsaft und Urin aus, und ich bekam diesen vertrauten Druck im Magen wie früher in der Kirche, wenn ich wusste, dass ich gleich losprusten und Mama wütend machen würde. Und wie damals als Kind in der Saint Monica-Kirche sah ich mich nach einem Mittäter um.
Mein Blick schweifte in die Runde und fiel auf Marcy, eine Frau mittleren Alters aus San Francisco. Sie hatte einen dicken weißen Pferdeschwanz. Sie lächelte. Eine leichte Zielscheibe.
Aber dann … Sie lächelte nicht nur. Sie nickte auch noch.
Und Jason, der neben ihr saß, nickte ebenfalls.
Jessica, meine Mitbewohnerin, nickte.
Alle nickten. Als hätten sie von Kindesbeinen an nichts anderes getan. Als hätten uns unsere Eltern erst beigebracht, dass man in die Toilette pinkelt, und tags darauf erklärt, jetzt sollten wir doch lieber in unsere Schnabeltassen pinkeln.
Und dann dämmerte es mir. Ich bin hier die Einzige, die noch nicht aus dem Mittelstrahl trinkt. Ich bin hier die Einzige, die ihr eigenes Abfallprodukt noch nicht probiert hat. Ich bin hier die Einzige, die nicht komplett durchgeknallt ist.
Während ich mir meine nickenden Mit-Yogis und strahlenden Lehrer so betrachtete, begriff ich, dass ich einen gigantischen Fehler gemacht hatte. Ich hatte mein Zuhause und meine Freunde verlassen, und wofür? Um einer Sekte beizutreten? Aber ich musste vorsichtig sein. Ich hatte genug Zombie-Filme gesehen, um zu wissen, dass das Verhängnis im Entdecktwerden lauert. Bevor ich also eine bewusste Entscheidung treffen konnte, spannte sich mein Nacken an, und mein Kinn senkte sich – und ich nickte. Ich versuchte zu lächeln, nach dem Motto »ich find’s ja so supergut, mit Leuten zusammen zu sein, die Pisse trinken«, und ich nickte wie wild. Ich bezweifle, dass ich irgendwen damit hinters Licht führte, aber was blieb mir übrig? Sie sind in der Überzahl, es gibt kein Entrinnen. Ich bin auf einer Insel gestrandet, allein unter Pissetrinkern.
2.
Heilige Geister
Sich der Möglichkeit der Suche bewusst zu sein, heißt: etwas auf der Spur sein. Nichts auf der Spur sein, heißt: Verzweiflung.
Walker Percy, Der Kinogeher
Ich kenne Leute, die nach dem ersten Tag von hier abgehauen wären. Leute, die in unangenehmen Situationen kurzerhand verkünden: Das hier ist nichts für mich . Ich ziehe mich aus dieser unangenehmen Situation zurück , sagen sie, weil sie nichts für mich ist . Und nachdem sie diesen Gedanken im Geist formuliert haben, setzen sie ihn in die Tat um. Sie gehen. Sie verlassen Städte, Familien, Beziehungen. Sie verziehen sich aus Yoga-Camps, wenn sie feststellen, dass sie von Pissetrinkern umgeben sind.
Ich blieb.
Es ist sehr schwierig, beim Blick in die nebulöse Vergangenheit zu erkennen, warum genau man etwas getan hat. Ich kann also nur sagen, dass mein Bleiben etwas mit Buße zu tun hat – obwohl mir mein Gehirn zuschrie, ich sollte verdammt noch mal die Kurve kratzen, ein paar Wochen als Touristin durchs Land reisen und dann früher nach Hause fliegen. Buße sitzt mir in den Knochen. Genau wie das Bedürfnis zu beichten, selbst wenn ich gar nichts zu beichten habe. Ich glaube, das sind noch die Früchte des Aberglaubens, die von dem kindlichen Glauben an einen allwissenden Schöpfer übriggeblieben sind. Ich stelle mir diesen Schöpfer, diesen Beobachter, wie eine Art lästigen großen Bruder im Himmel vor, der mir ewig meine Macken unter die Nase reibt. Wenn ich lüge oder betrüge, habe ich das Gefühl, dass dieser lästige Bruder von da oben »Erwischt, Suzie, ERWISCHT!« zu mir runterruft, und alle, die auch nur halbwegs intakte Antennen für die göttlichen Buhrufe haben, können ihn hören. Und deshalb benehme ich
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