Bin Ich Schon Erleuchtet
anmutig, als sei Indra selbst die Haltung, die ich zu meistern hatte. Meine Schauspiellehrer forderten uns häufig auf, uns den Figuren durch ihre Gangart zu nähern. Wenn wir es schafften, in den Körper unserer Charaktere zu schlüpfen, würde sich uns ihre Gefühlslandschaft erschließen. War ich also allein unterwegs, ging ich wie Indra. Mit aufrechtem Rückgrat und gesenktem Kinn. Als Indra bestand ich nur aus geraden Linien – groß und langgestreckt. Meine weicheren Kurven streckten sich, bis sie ihrer Ballerina-Pose glichen. Ich machte bewusste, präzise Schritte. Ich musste den Blick nicht senken. Indra würde dem Untergrund vertrauen.
Beim Unterricht beobachtete ich, wie sie ihren Körper in die jeweilige Position gleiten ließ. Wie schmerzhaft mir die Haltung auch vorkam, wie verdreht und schief ich mich auch fühlte, Indras Gesicht war immer entspannt. Sie schien irgendwo über dem Raum zu schweben und kaum mitzukriegen, wie ihr Körper von einer unsichtbaren Hand geführt wurde, wie diese Hand ihre Arme perfekt ausrichtete, ihren Rumpf drehte und massierte und ihre Füße zärtlich zu eleganten Bögen formte. Ihre Zehen spreizten sich wie die Federn im Fächer einer Striptänzerin.
Indra entfachte in mir den Drang, mir Dinge zu kaufen. Glätteisen zum Beispiel. Sogar Indras Haare drückten eine gewisse innere Ruhe aus, wogegen meine wellige, fusselige Mähne, die mir dauernd aus dem Haargummi rutschte, beileibe nichts dergleichen über mich aussagte.
Wegen Indra wollte ich Yoga-Matten und Bücher mit Titeln wie City Karma, Urban Dharma und Brooklyn Kama Sutra haben. Nach dem Unterricht ging ich immer geradewegs zu Trader’s Joe, als sei der Kauf von Bio-Käse, Bio-Tomaten und biodynamischem Schaumbad eine Fortsetzung meiner Yoga-Übungen.
Und laut Yoga Journal war das auch der Fall.
Aber am erstaunlichsten war, dass ich Indra zuliebe mit dem Rauchen aufhören wollte. Als ich eines Vormittags nach dem Unterricht den langen Wollmantel anzog, mit dem ich am Abend vorher in die Bar gegangen war, fragte sie mich, ob ich rauchte. Ich sagte ja, schon, manchmal eben, wenn ich was trank oder eine Freundin sich getrennt hatte oder, na ja, überhaupt.
»Aber ich bin gerade dabei aufzuhören«, sagte ich.
Indra lachte tief aus dem Bauch heraus. »Ich weiß, wie das ist«, sagte sie verständnisvoll. Sie senkte die Stimme und beugte sich zu mir, als würde sie mir gleich ein höchst intimes Geheimnis anvertrauen. »Ich hab selbst mal damit aufgehört – ungefähr zwölf Jahre lang.«
»Du machst Witze«, flüsterte ich zurück.
Sie nickte. »Aber mit dem Aufhören ist das so – es ist eigentlich kein Prozess.« Sie lächelte. »Es ist eine Handlung .«
Es war nicht das letzte Mal, dass Indra mich beim Bluffen erwischte. Aber zwischen den Zeilen hörte ich eine noch viel provozierendere, inspirierendere und beängstigendere Botschaft: Ich war einmal du, deshalb kannst du eines Tages ich sein.
Heute frage ich mich, ob das der Anfang meiner ambivalenten Gefühle gegenüber Indra war. In diesem Moment erkannte ich nicht nur mein Potential, wie sie zu sein, sondern auch ihr Potential, ich zu sein. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass bald darauf etwas passierte, was in mir den Wunsch weckte, ihr überallhin zu folgen. Wenn sie mir nur zeigte, wie man richtig lebt.
Es passierte an Thanksgiving. In jenem Jahr war meine Großmutter nicht in der Verfassung, am Familienessen bei meinem Onkel und meiner Tante teilzunehmen, aber mein Großvater ließ sich nach Möglichkeit keine Party entgehen. Im Grunde war er in aller Regel die Seele der Party. Seit meine Großmutter nicht mehr so gesund war, waren wir häufig bei ihm und leisteten ihm Gesellschaft. Nicht selten waren meine Brüder, wenn meine Schwester und ich am Freitagabend zu unseren Eltern kamen, schon dabei, für Opa Scotch und Wasser zu mischen, und das war für uns vier der Start ins Wochenende. Es war keine Pflichtübung. Selbst meine Freunde waren gerne mit meinem Großvater zusammen.
Meine Mom nannte ihren Schwiegervater gerne »altes Haus« – alle fühlten sich wohl mit ihm, man musste ihn einfach lieben. Meine Schwester nannte ihn den »fluchenden Teddybär«. Er war über einen Meter neunzig groß, hatte einen kantigen Schädel, dichtes weißes Haar und leuchtend blaue Augen und war bekannt dafür, dass er das Falsche zur richtigen Zeit sagte. Als er meine Freundin Francesca zum ersten Mal sah, musterte er sie mit einem
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