Bin Ich Schon Erleuchtet
deine Scheiße aus .
An jenem Abend trat ich aus dem Dunst der Seattler Abenddämmerung in ein warmes, schummriges Studio. Kerzenschein spiegelte sich im Parkettfußboden. Leise, rhythmische Mönchsgesänge tönten aus einem unsichtbaren Lautsprecher, und eine unfassbar schöne Frau mit glatten, honigblonden Haaren saß absolut reglos vor einem niedrigen Altar im vorderen Teil des Raums. Sie trug flachsfarbene Baumwollhosen und ein passendes Tanktop. Sonnengebräunt, blond, groß – für solche Äußerlichkeiten hatte ich bis dahin nie geschwärmt. Es war mehr ihre Haltung, die mich anzog, still und doch geschmeidig. Und ihre warmen braunen Augen, von sympathischen Lachfältchen umgeben, die bis zum Haaransatz reichten.
Bald darauf vollführten wir schwitzend unsere Dehn- und Streckübungen. Die Beleuchtung blieb dämmrig, und ihre Stimme blieb sanft, so dass ich nach einer Weile den Eindruck hatte, ihre Anweisungen kämen aus meinem eigenen Kopf. Gegen Ende der Stunde lagen wir in einer irrsinnig anstrengenden Haltung auf dem Rücken, die Füße zwanzig Zentimeter über dem Boden erhoben, bis meine Bauchmuskeln fast explodierten. Ohne es zu merken, hatte ich die Hände über dem Solarplexus gefaltet.
»Das ist eine gute Idee«, sagte Indra mit Blick auf meine Hände, während sie neben mir kniete, um meine Hüften auszurichten. »Mir hilft Beten auch immer, wenn ich nicht weiß, was ich machen soll.«
Ich musste lachen, weil sie meine Unfähigkeit so trocken kommentierte, aber ich hätte gerne richtiggestellt, dass ich auf keinen Fall beten würde. In Wirklichkeit hatte ich gedacht: Bring mich um. Bitte bring mich um. Ich würde doch nie beten. Zu wem sollte man denn auch beten, um Himmels willen? Oder besser gesagt, um Nichthimmels willen?
Aber am Ende der Klasse dankte ich den Göttern für diese Lehrerin. Bevor ich ging, zahlte ich den Mitgliedsbeitrag für einen Monat und versprach, ich käme bald wieder.
Indra besaß mit ihrem Partner Lou zusammen ein kleines Studio in Capitol Hill. Lou war mindestens zehn Jahre älter als Indra, aber sie waren gleich groß und gleich schwer – beide hochgewachsen und stark. Das erzählte mir Indra sofort, als ich sie nach Lou fragte, als sei es der Beweis, dass sie füreinander geschaffen waren. Ich ging nicht oft in Lous Kurse – meine Sehnen fühlten sich danach zwar wie Gummibänder an, aber er war mir zu intensiv und sein Blick für meinen Geschmack zu durchdringend. Außerdem war der Kurs voll von miefigen Trommelkreis-Typen. In Indras Kursen fühlte ich mich wie zu Hause.
Das ist schon eine ausgesprochen bizarre Feststellung, oder? In Indras Kursen fühlte ich mich wie zu Hause. Bevor ich sie kannte, hätte ich mich gnadenlos über mich selbst mokiert, wenn mir ein solcher Satz entschlüpft wäre. Vor Indra verstand ich unter Fitnesstraining einmal den Hügel hochgehen, um Kippen zu kaufen. Oder meine Bücher umsortieren. Sex. Vielleicht eine besonders anstrengende Schauspielübung. Die meiste Zeit lebte ich nur vom Hals aufwärts.
Ich bin eine Leserin. Das bedeutet, dass ich mich gerne an engen, warmen Orten wie Betten oder Badewannen aufhalte, an denen ich lese oder döse oder die Staubkörnchen in den Sonnenstrahlen beobachte. Mit fünfundzwanzig versetzte mich die Vorstellung körperlicher Betätigung in Panik. Ich wurde manchmal regelrecht wütend, wenn ich Jogger sah, genauso wütend, wie wenn Leute mich aufforderten, an einen Gott zu glauben, der verlangt, dass wir uns andauernd mies fühlen, damit wir in den Himmel kommen. Alle Jogger glauben an ein Leben nach dem Tod. Doch, garantiert, denn warum würden sie sonst in diesem allen Anschein nach kurzen und endlichen Leben so viel Zeit verschwenden? Die Bevölkerung meiner Heimatstadt Seattle war gespalten. Die Hälfte joggte und glaubte an ein Jenseits, die andere Hälfte las und glaubte an die Happy Hour.
Mit fünfundzwanzig war ich ein fester Bestandteil der zweiten Hälfte, deshalb schockierte es meine Bekannten und mich nicht wenig, als ich plötzlich mindestens viermal wöchentlich in Leggins und Tanktop in Indras Yoga-Studio eilte, schwitzte und stretchte und die Erfahrung machte, dass mein Körper noch zu etwas anderem gut war, als mich im Bett umzudrehen. Gewöhnlich hatte ich einen Tag hinter mir, an dem ich von der Stoßstange der Zeit mitgeschleift worden war und mit den Fingernägeln am Boden Halt gesucht hatte. Wenn ich das Studio verließ, ging ich aufrecht, geschmeidig,
Weitere Kostenlose Bücher