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Bin Ich Schon Erleuchtet

Bin Ich Schon Erleuchtet

Titel: Bin Ich Schon Erleuchtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suzanne Morrison
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durchtriebenen Lächeln von oben bis unten und sagte: »Na, Sie sind eine ganz heiße Nummer, was?« Sie musste so lachen, dass sie fast den Wein über den Tisch geprustet hätte.
    Als ich ihm erzählte, dass sich meine beste Freundin aus der Grundschule geoutet hatte, sagte er: »Das ist okay, aber was zum Teufel treiben diese Lesben miteinander, Suzie? Was machen sie?«
    »Sie machen alles, was ein Mann und eine Frau auch machen, Opa.«
    Er wackelte mit dem erhobenen Zeigefinger und machte ein sehr selbstzufriedenes Gesicht.
    »Ah, ja … alles außer einem.«
    Politisch korrekt war er nicht.
    Opa ging es nicht besonders gut. Wir versuchten alle, ihn auf seinen Hometrainer zu scheuchen, und manchmal tat er uns den Gefallen und trat fünf Minuten lang halbherzig in die Pedale. Anschließend forderte er eine Büchse Sardinen als Belohnung. Am liebsten saß er in seinem großen roten Fernsehsessel, sah sich Gerichtsshows und alte britische Filme an oder hörte über Kopfhörer Verdi und Wagner und pfiff bei den eingängigen Stellen mit.
    Nachdem wir uns ausgiebig mit Truthahn und Kartoffelbrei vollgestopft hatten, halfen mein Vater und mein älterer Bruder Opa ins Auto. Auf einmal gab er beim Atmen ein pfeifendes Geräusch von sich. Das war nicht ungewöhnlich. Das Aufstehen und Hinsetzen fiel ihm seit einiger Zeit schwer. Sich beim Einsteigen ins Auto gleichzeitig zu drehen, vorzubeugen und in die Knie zu gehen, war eine schwierige Übung für ihn. Wir wussten alle, dass er laut summte, um das Ächzen zu übertönen, das ihm beim Binden seiner Schnürsenkel entfuhr. Aber an diesem Abend keuchte er bereits, als ihn seine beiden Namensvettern die kurze Auffahrt zum Auto begleiteten. Dort angekommen, klang das Geräusch, das aus seiner Brust drang, so, als würde er an einer straff gespannten Zellophan-Folie saugen, und als er zum Einsteigen einen Fuß hob, taumelte er gegen meinen Vater. Ich lief um das Fahrzeug herum und half, ihn auf den Sitz zu hieven, während sein Atem immer flacher ging und er wie ein Flötenspieler mit gespitzten Lippen die Luft in kleinen Portionen einsog. Er blickte uns angstvoll an. Ich hielt ihn am Arm und wollte ihn durch pure Willenskraft zum Atmen zwingen. Dazu atmete ich selbst tief ein und aus, um ihm zu zeigen, wie er den Weg zurück zu meinem Gesicht, dem Auto und einer weiteren Nacht finden konnte. »Weiter, Opa«, drängte ich, während ich seinen Arm streichelte. Ich atmete ein und aus, immer wieder, so macht man das, mach es mir einfach nach . Aber bald bekam auch ich Atemnot und spürte, dass mein Gesicht ganz nass war. Ich schluchzte. Oder hyperventilierte. Oder beides.
    Ich weiß nicht mehr, was dann passierte, nur dass ich vor dem Auto stand und mein Cousin Mike, der Priester, mich im Arm hielt, weil ich haltlos weinte, bis mein Dad mich aufforderte einzusteigen.
    Opas Atemzüge waren wieder etwas tiefer geworden, und er entspannte sich. Wir brachten ihn in aller Eile nach Hause. Auf der Fahrt saß er erschöpft gegen die Rückbank gelehnt. Er wandte mir den Kopf zu und sagte: »Das ist ganz und gar nicht lustig.«
    Am nächsten Tag legte sich bei jedem Gedanken an meinen Opa ein Gewicht auf meine Brust, als würde ich ertrinken. Ich versuchte, nicht an die Zukunft zu denken, aber die Uhr schien schneller als sonst zu laufen. Die Zeit faltete sich zusammen wie der Balg eines Akkordeons, und ich konnte nur untätig zusehen. Ich sah meine Großeltern sterben, und dann, als wäre nur ein Tag vergangen, führte ich meinen Vater zum Auto, und meine Kinder sahen entsetzt zu und dachten daran, dass sie mich auch bald führen würden. Ich saß in Gedanken nach Luft ringend neben meinem erschrockenen Enkelkind, dem nächsten Glied in der Familienkette aus Liebe und Kummer, und ich wusste, es spielte keine Rolle, ob ich ein authentisches Leben führte oder nicht, ob ich für meine Familie lebte oder meinen Freund oder irgendeine Vorstellung von meinem wahren Selbst. Nichts davon würde mir helfen, wenn ich ins Nichts blickte.
    Ich besuchte Indras Kurse und befolgte all ihre Anweisungen. Ich atmete ein, wenn sie es sagte, und atmete aus, wenn sie es sagte, und wenn wir uns am Ende in der Totenstellung ausruhten, bekam ich endlich wieder Luft.
    Ein paar Monate später nahm ich das Geld, das ich ein Jahr lang für Zigaretten ausgegeben hätte – ungefähr 1200 Dollar – und gab es Indra. Es diente als Anzahlung für ein zweimonatiges Yoga-Lehrer-Seminar auf Bali mit Indra und ihrem

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