Bindung und Sucht
erhöhtes Interesse am Reisen oder anderen Aktivitäten, die sie seit Jahren nicht mehr geübt hatten. Nach unserem Dafürhalten sind dies klare Anzeichen für das, was sich am besten als »SEEKING«-Verhalten erklären lässt. Dabei berichtete keiner dieser Patienten von irgendwelchen Anzeichen der Hypomanie/Manie oder einer veränderten Stimmung, und bei keinem von ihnen wurde irgendeine Form derartiger Reaktionen beobachtet – im Gegensatz zu dem, was von einigen Individuen der an Parkinson erkrankten Population berichtet wurde (Coenen et al. 2009). Das spricht dafür, dass die akute Stimulation bei der depressiven Population die Erwartung einer Belohnung erzeugt und nicht Belohnung selbst, wie sich dies auch in Panksepps Beschreibung der Arbeitsweise des SEEKING-Systems findet (appetitive Motivation, Panksepp 1998).
Fazit
Unsere Analyse des Gehirns baut auf den psychologischen Erkenntnissen von John Bowlby (2006) auf, der als Erster vermutete, dass die Depression aufgrund von anhaltendem Trennungsschmerz entsteht, dem, wenn er zu lange andauert, die chronische depressive Verzweiflung folgt. Dank der Strategien der affektiven Neurowissenschaften (Panksepp 1998) besitzen wir mittlerweile eine Fülle von Daten über die neurophysiologischen Mechanismen des Trennungsschmerzes und damit auch über die Protestphase, die zur Depression führt, und gewinnen zunehmend Klarheit darüber, dass nachlassende SEEKING-Impulse ein depressives Erscheinungsbild zu fördern vermögen, wenn dieses System es nicht vermag, den Protest (z. B. anhaltende Trennungsrufe) durchzuhalten, sondern mit seiner nachlassenden Aktivität zur Verzweiflung führt. Das PANIC-System, das den Trennungsschmerz vermittelt, wird von einer Reihe prosozialer Neuropeptide reguliert, die auch das CARE- und das PLAY-Verhalten fördern (z. B. endogene Opioide, Oxytocin und Prolactin). Dass diese Systeme soziale Bindungen zu festigen vermögen (Panksepp 1981, 1998), erklärt vielleicht auch, warum die Depression in der weiblichen Population fast doppelt so weit verbreitet ist wie in der männlichen – das weibliche Gehirn könnte nämlich, verglichen mit dem männlichen, »in sich« empfänglicher für prosoziale Emotionen sein (Swain et al. 2007).
Der Schmerz der Depression – der gewöhnlich aus der Erfahrung sozialer Niederlagen und Verluste entsteht – mag der Preis sein, den wir Säugetiere für die evolutionären Vorteile der sozialen Bindungen zahlen, die unser Dasein und unser generatives Fortleben unendlich erleichtern, gar nicht zu reden von der Bereicherung, die sie für unser affektives Leben bedeuten. Auch wenn die Tierforschung uns nicht über die komplexen kognitiv-affektiven Prozesse (insbesonderedas Grübeln und die kognitiven »Verdüsterungen«) aufklären kann, wie Menschen sie in der Depression erfahren, so kann sie uns doch über die evolutionär erhalten gebliebenen affektiven psychophysiologischen Mechanismen informieren, die den eigentlichen Kern der depressiven Verzweiflung bilden. So gesehen, ist das Potential für die Depression eng mit dem Schmerz des sozialen Verlusts und mit dem daraus folgenden Nachlassen des Interesses an der Außenwelt verknüpft, einer immanenten Schwachstelle hochgradig prosozialer Gehirne.
Unser kognitives Bewusstsein ist durch das intellektuelle Potential des größer gewordenen menschlichen Gehirns mit seiner Gedankenfülle und gestützt auf unsere damit gegebene kulturelle Evolution in seiner Breite und Tiefe ganz erheblich erweitert worden. Dennoch bleiben wir die Erben früher biologischer Gegebenheiten, die das eigentliche Fundament unserer Sinn- und Seinsvorstellungen bilden. Auch wenn es sehr schwierig ist, sich verständlich über diesen affektiven Bedeutungshintergrund zu äußern (eine Aufgabe, die uns den Rückgriff auf eine spezielle funktional-emotionale Nomenklatur abverlangt) – unsere subjektiv empfundene Glückserfahrung wie auch das Unheil unseres Daseins ergeben sich nun einmal aus unserer alten animalischen Natur, die voll ist von primär-bewussten Affekten. Die Systeme, die diese Basisemotionen und -affekte generieren, sind sämtlich in den alten zentralen subkortikalen Hirnarealen ansässig, die alle Säugetiere aufgrund ihrer gemeinsamen Abstammung teilen, mit großen längs verlaufenden Strukturen wie dem medialen Vorderhirnbündel. Diese Komponenten unseres Geistes treten auf dem Weg über das Lernen mit vielen Lebenserfahrungen in Verbindung, aber ihre affektive Intensität
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