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Bindung und Sucht

Bindung und Sucht

Titel: Bindung und Sucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Heinz Brisch
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den Arm nimmt, weil sie sein durch den Stress aktiviertes Bindungsbedürfnis erkennt, die zu ihm über seine Not spricht, seine Affekte benennt und ihm seinen Affekt auch in abgeschwächter Form – über ihre eigene Mimik, entsprechend seiner Tonlage sowie über ihren Körperausdruck – zurückspiegelt. Dazu muss die Bindungsperson den vom Säugling ausgedrückten, nicht mehr steuerbaren Affekt selbst wahrnehmen, richtig dekodieren und innerlich aushalten, sprich: selbst auch bei sich regulieren. Wird dem Säugling sein zuvor nicht mehr regulierbarer Affekt »in kleinen Dosen« und in abgeschwächter Form zurückgespiegelt, dann kann er den Affekt – zusammen mit seiner Bindungsperson – einigermaßen aushalten, von dem er alleine noch überwältigt wurde. Auf diese Weise wächst aufgrund der Erfahrung der Koregulation durch eine Bindungsperson die Fähigkeit zur Selbstregulation von starken Gefühlen und auch Stressreaktionen.
    Steht die Bindungsperson dagegen nicht zur Verfügung, etwa weil sie gar nicht anwesend ist oder weil sie die Stresssignale des Säuglings – etwa Weinen und Schreien – nicht hört oder nicht wahrnimmt oder wegen eigener psychischer Schwierigkeiten falsch interpretiert, bleibt der Säugling in einem Zustand großer Übererregung. Da ihm, nachdem er bei der Suche und dem Herbeirufen einer Bindungsperson erfolglos war, Kampf und Flucht als nächste Möglichkeiten nicht zur Verfügung stehen – Säuglinge können noch nicht weglaufen und sich auch nicht selbst Hilfe holen –, wird er wegen der übergroßen Erregung des Sympathikus als Teil des autonomen Nervensystems (ANS) z. B. in einen Zustand der Dissoziation geraten. Dies bedeutet, dass der Säugling sein Großhirn aus seiner Wahrnehmung herausnimmt, es quasi »abschaltet« und auf der Ebene des »Reptiliengehirns« – des alten für die grundlegenden Lebensfunktionen und das Überleben zuständigen Teils des Gehirns, der sich auch bei Reptilien findet – funktioniert. Nicht mehr regulierbare extreme Affekte werden über diesen psychischen Mechanismus des »Abschaltens« tolerabel, weil der Säugling im Zustand der Dissoziation sowohl seine Motorik als auch seine Affekte »einfriert«, das heißt er fällt, wenn er auf der Ebene des Reptiliengehirns funktioniert, in eine Art Schockstarre, in der er keine Gefühle, keine körperlichen Schmerzen oder Körpersignale und auch keine Affekte mehr wahrnimmt. Dieser Mechanismus ist ein evolutionär sehr alter Überlebensmechanismus, der bei allen Menschen auf allen Altersstufen – und eben auch bereits bei Säuglingen – wirksam ist.
    Es kann aber auch passieren, dass die starke Erregung des Sympathikus, die – wenn die Bindungsperson nicht darauf eingeht – bei älteren Kindern zu Kampf oder Flucht führt, in eine parasympathische Reaktion umschlägt, sozusagen den Gegenspieler des Sympathikus im ANS aktiviert; beide, Sympathikus und Parasympathikus, steuern als Teile des ANS die Atmung und die Herz-Kreislauffunktion, der Parasympathikus zudem auch besonders die Funktion des gesamten Magen- und Darmtrakts, also auch die autonomen Funktionen von Stuhlgang und Wasserlassen. Befindet sich der Säugling in einer parasympathischen Übererregung und dissoziiert er in dieser Erregungssituation, so gerät er in einen Erschlaffungszustand, weil Puls und Blutdruck absinken, alle Gefäße sich weiten und er in gewisser Weise »kollabiert«. Dies gleicht von außen gesehen einer Ohnmacht, in der der Säugling wie »weggetreten« wirkt. Da der Parasympathikus für die Funktion des Magen-Darm-Trakts zuständig ist, kommt es in dieser Situation oft zu Wasserlassen, Einkoten, Erbrechen, Schluckauf.
    Der Säugling – oder auch das Kleinkind – kann in einer solchen Stresssituation, in der er nicht durch eine Bindungsperson die hilfreiche Erfahrung machen kann, dass er koreguliert wird, auch lernen, dass ein Suchtmittel Ähnliches zuleisten vermag und seine Stressreaktionen, sprich: die parasympathikotonen oder sympathikotonen Reaktionen seines vegetativen, autonomen Nervensystems, begleitet von der emotionalen und physiologischen Erfahrung der Beruhigung, nach unten reguliert. Dann wird er sehr schnell lernen, auf dieses Suchtmittel immer wieder zurückzugreifen, besonders wenn keine hilfreiche Bindungsperson zur Verfügung steht. Suchtmittel – als solche können das Essen, später Alkohol und Drogen, aber auch andere neurotoxische Stoffe wie etwa die inhalierbaren Bestandteile von Klebern etc.

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