Bindung und Sucht
was ich bin – Problemtrinker oder Alkoholiker?«
»Nach dem, was ich gehört habe, meine ich, dass Sie wahrscheinlich Alkoholiker sind.« Der Therapeut hielt die Hand hoch und begann, an den Fingern abzuzählen: »Erstens: Sie hatten Blackouts; zweitens: Sie hatten zwei Autofahrten in betrunkenem Zustand; drittens: Ihre Ex-Frau hat sich über Ihr Trinkverhalten beklagt , und es spricht einiges dafür, dass es zum Scheitern Ihrer Ehe beigetragen hat; viertens: Sie haben selbst gesagt, dass Sie sich Gedanken wegen Ihres Trinkverhaltens machen; und schließlich spricht manches dafür, dass Ihr Vater Alkoholiker gewesen sein könnte. Es gibt Hinweise darauf, dass Alkoholismus auch genetisch weitergegeben wird und familiär gehäuft auftritt. Damit haben Sie eine Menge Warnsignale, und ich würde Ihnen raten, sie nicht zu ignorieren.«
Tom saß schweigend da und starrte minutenlang auf den Fußboden, bevor er fragte: »Was meinen Sie, was ich tun sollte?«
»Ich würde vorschlagen, wir vereinbaren einen Termin in der nächsten Woche, und in der Zwischenzeit nehmen Sie an ein paar AA-Zusammenkünften teil.«
»AA?«, fragte Tom entgeistert. »Sind das nicht die . . .?«
Der Therapeut machte eine Handbewegung, um Tom am Weiterreden zu hindern. »Schauen Sie, ich weiß, was Sie jetzt denken: ›Was soll ich dort unter lauter kaputten Säufern?‹« Er zog eine Meetingliste der Anonymen Alkoholiker aus einem Fach seines Schreibtisches, markierte drei Adressen und die entsprechenden Termine und hielt Tom das Blatt hin. »Versuchen Sie es mit diesen dreien. Sie müssen halt sehen, welche Gruppe Ihnen am ehesten zusagt. Suchen Sie sich Ihre Gruppe aus, so wie Sie Ihren Therapeuten aussuchen würden. Es gibt gute und schlechte AA-Gruppen. Das wichtigste Kriterium einer guten Gruppe ist, dass Sie sich dort wohlfühlen und dass Sie mit den Leuten zurechtkommen. Ich denke, dass Sie diese drei hier für mit Ihrem Anliegen vereinbar halten werden.«
Als Tom zur nächsten Sitzung erschien, hatten sich seine Stimmung und sein Gebaren merklich verändert. Er berichtete, dass er in der Zwischenzeit an fünf AA-Treffen teilgenommen habe und sich besser fühle als seit Jahren. Seine Begeisterung war offensichtlich. Er war von dem Programm sehr angetan. Beim zweiten Besuch war er auf einen alten Freund gestoßen, den er seit den Collegetagen, als sie Zechkumpane gewesen waren, nicht mehr gesehen hatte. Sie waren beide überrascht, einander an diesem Ort zu treffen. Beim darauffolgenden Gruppentreffen begegnete er einem Seniorpartner seiner Firma. Nach ein paar unbehaglichen Sekunden gingen sie aufeinander zu und kamen schnell überein, ihre Anonymität gegenüber anderen Angehörigen der Firma zu wahren. Allerdings berichtete Tom, am gemeinsamen Arbeitsplatz habe sich sein Verhältnis zu diesem Seniorpartner doch merklich verändert.
»Ich fühle mich dort jetzt nicht mehr so isoliert. Ich spüre: Ich habe einen Bundesgenossen.«
Bindung und Biologie
Frühe Überlegungen
Im Gegensatz zu den Beziehungstheoretikern (etwa Winnicott, Guntrip, Fairbairn), die sich auf Datenmaterial aus der Behandlung ihrer erwachsenen Patienten stützten, arbeitete Bowlby mit Material, das der Beobachtung des Verhaltens kleiner Kinder in realen Lebenssituationen entstammte. Da seine Beobachtungen sich nicht in allen Punkten mit der seinerzeit vorherrschenden psychodynamischen Ansicht (z. B. Klein 1995) deckten, suchte er nach einer alternativen Perspektive, um das, was er als primäres Bindungsbedürfnis betrachtete, in seinem ganzen Umfang zu erfassen. Er wandte sich der Verhaltenslehre (z. B. Lorenz 1953) zu, um mit ihrer Hilfe die Bedeutung von Bindung und emotionaler Regulation in die richtige Perspektive zu bringen. Bowlbys Position kontrastierte mit derjenigen von Melanie Klein, die in Bezug auf die Ätiologie psychopathologischer Phänomene vor allem auf Phantasien und intrapsychische Triebkonflikte verwies. Eine Pathologie wurzelt in Kleins Sicht in Konflikten, die ihrerseits aus intern erzeugten Phantasien entstehen. Dementsprechend werden Beziehungen zu anderen Menschen als Folgeerscheinungen rein selbstgenerierter innerer Prozesse gesehen und nicht als wesentliche Komponenten zwischenmenschlicher Interaktionen. Dagegen war Bowlby sehr viel stärker an den tatsächlichen Geschehnissen in realen Interaktionen interessiert, wie sie sich in der Außenwelt des Kindes abspielten.
Im Rückgriff auf die Überlegungen von Konrad Lorenz (1953)
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