Bindung und Sucht
sich durch Dauer und Stärke seiner frühesten Bindungserfahrungen. Die Bindungstheorie hat der Beschäftigung mit der Verbundenheit zwischen Kindern und ihren Bezugspersonen wissenschaftliche Legitimität verliehen und damit auch der Forschung über die Zusammenhänge zwischen Sucht und Bindung zur Legitimation verholfen. Während die klassische Entwicklungstheorie die Bedeutung des frühen Erlebens für eine pathologische Symptomatik im Erwachsenenalter immer anerkannt hat, war es der Bindungstheorie vorbehalten, die Signifikanz der frühen Bindungsbeziehungen in die richtige Perspektive zu bringen. Enge und dauerhafte Beziehungen sind ein wesentlicher Bestandteil der menschlichen Natur, und die Unfähigkeit, solche Beziehungen einzugehen, steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Qualität der frühen Bindungserfahrungen. Menschen, denen es schwerfällt, untaugliche Bindungsstile zu überwinden (Ainsworth 1989), sind unter Umständen anfällig für ein zwanghaftes Suchtverhalten, mit dem sie dieses Defizit kompensieren. Lewis (1996) verweist ausdrücklich auf den Primat dieses biologisch beförderten Anliegens, wenn er sagt: »Bindung ist nicht nur eine gute Idee – sie ist ein Gebot.«
Die jüngere bindungstheoretische und selbstpsychologische Forschung hat die Suchtspezialisten gelehrt, dass dysfunktionale Bindungsmuster mit der Fähigkeit interferieren, Befriedigung aus interpersonalen Beziehungen zu ziehen, und ihrerseits innere »Arbeitsmodelle« bzw. Bindungsrepräsentationen begünstigen,die solche Schwierigkeiten perpetuieren. Frühe Entwicklungsfehlschläge bewirken bei manchen Individuen eine Verletzlichkeit, die suchtartige Verhaltensweisen fördert, und solche Verhaltensweisen sind irregeleitete Versuche der Selbstheilung. Wenn die altersgemäßen Entwicklungsbedürfnisse nicht erfüllt wurden, suchen Drogenabhängige ständig »da draußen« nach etwas, das die Stelle dessen einnehmen könnte, was »hier drinnen« fehlt.
4.) Trennung und Individuation, frei von Bindungsbedürfnissen, sind keine legitimen Ziele einer normalen Entwicklung oder einer Therapie. Bezogen auf Sucht und Suchtbehandlung ist die Bindungstheorie von erheblichem Belang in unserer Zeit und unserer Gesellschaft, in der die Menschen nach Unabhängigkeit, Autonomie und Eigenständigkeit streben, nur zu oft allerdings um den Preis der Entfremdung von sich selbst und von anderen. Nirgendwo zeigen sich diese negativen Begleiterscheinungen durchgängiger als in der Gruppe der Alkoholiker und Suchtkranken, der notorisch »gegenabhängigen«, d. h. übermäßig unabhängigen Menschen, die ihr Leben an den Extremen des Kontinuums zwischen Bindung und Individuation führen. Autonomie wird um den Preis der Entfremdung und des Fehlens von Wechselseitigkeit in ihren Beziehungen erkauft. Die Bindungstheorie repräsentiert nicht nur eine Bewegung weg von der Ein-Personen-Psychologie; es liegt ihr auch von Anfang an ein interpersonales Verständnis des Menschen als stets in Beziehung zu anderen Menschen stehend zugrunde. Eine wirksame Behandlung basiert ebenso wie die Bindungstheorie auf dem Gedanken, dass der Mensch in seinem Kern ein soziales, kein individuelles Wesen ist.
Die Objektbeziehungstheorie hat Bowlby gelehrt, dass introjizierte Selbst- und Objekt-Repräsentationen mit einem intensiven Affekt behaftet sind und die Person in der Neigung bestärken, ihr inneres Erleben auf die Außenwelt zu projizieren (Ogden 1982). Unter dem Einfluss der projektiven Identifizierung kann es durchaus geschehen, dass ein Individuum andere Personen in seiner Außenwelt dazu zwingt, veranlasst oder provoziert, unwissentlich an seinen eigenen inneren Kämpfen und Erwartungen teilzuhaben. Das wird zum »Lebensskript«, zu einer self - fulfilling prophecy , die das interpersonale Handeln des Individuums in der Weise lenkt und bestimmt, dass die Außenwelt sich allmählich den inneren Erwartungen und Erfahrungen dieser Person anpasst oder einfügt. Paradoxerweise ergibt sich aus der Vertrautheit des Erlebens ein perverses Gefühl des Wohlbehagens, das den Drang oder das Bedürfnis nach Konsistenz befriedigt und so die Angst vorübergehend verringert.
Im Blick darauf formulierte Bowlby ein alternatives Modell der Internalisierung, denn seiner Ansicht nach hatte die Art, wie die Psychoanalyse diesen Prozessdefinierte, etwas Mechanisches an sich – nach dieser Definition wurde das zuvor Äußere eben zum Inneren. Bowlbys internal working model , im
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