Bindung und Sucht
Wenn eine drogen- oder alkoholkranke Person also zu Abstinenz und Nüchternheit gelangen soll, muss sie zunächst Abstand von ihrer zerstörerischen primären Bindung an die Droge nehmen und dann die Fähigkeit zu geglückten interpersonalen Bindungen entwickeln.
Wer mit der Tätigkeit der Anonymen Alkoholiker vertraut ist, wird sofort die auffallende Ähnlichkeit dieser Überlegung mit deren Grundsatz erkennen, dass der Abstinenz die höchste Priorität in der Behandlung gelten muss (Abstinenz ist der erste Schritt im Zwölf-Punkte-Programm der Anonymen Alkoholiker). Ihre siebzigjährige Erfahrung hat die Organisation der Anonymen Alkoholiker gelehrt, dass eine Bindung an die Behandlung unmöglich ist, solange die alkoholkranke Person dem Alkohol zugetan bleibt. Wer neu zu den Anonymen Alkoholikern stößt, wird von den Mitgliedern eindringlich aufgefordert, es »einfach zu halten«, nicht zu trinken und an den Gruppentreffen teilzunehmen. Die Organisation der Anonymen Alkoholiker hat intuitiv erkannt, dass Abstinenzaußerordentlich schwer einzuhalten ist, wenn nicht ein alternatives Verhalten an die Stelle des Trinkens tritt. Aus bindungstheoretischer Sicht wird die Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker die Unterstützung und emotionale Regulation bieten, die ein genesender Alkoholiker während des schwierigen Übergangs von der Loslösung vom Alkohol zur Bindung an eine »Kultur der Heilung« braucht.
Ein klinisches Beispiel: Tom, ein 42-jähriger Buchhalter, klagte beim ersten Termin über Depressionen und beruflichen Stress. Der erste Teil der Sitzung drehte sich um »den fürchterlichen Druck, unter dem ich am Arbeitsplatz stehe«.
Auf Fragen nach den übrigen Lebensbereichen zuckte Tom mit den Schultern und schüttelte den Kopf. »Welche anderen Lebensbereiche? Ich habe keine Zeit für etwas anderes als dieses Chaos, das ich in der Firma in Ordnung bringen muss.« Er sah den Therapeuten durchdringend an. »Wenn ich es nicht mache, wer macht es dann?«
»Das klingt, als hätten Sie es schon immer allein machen müssen«, antwortete der Therapeut.
»Nur zu wahr.« Tom seufzte und lehnte sich zurück. »Es gibt ein paar Leute, die gieren nach meinem Job. Die sähen es nur zu gern, wenn ich die Sache vermasselte. Auf die kann ich bestimmt nicht zählen.«
»Und an der häuslichen Front?«, fragte der Therapeut. »Kommt Unterstützung von dort?«
»Sie meinen meine Ex-Frau?« Tom richtete sich in seinem Stuhl auf und grinste verächtlich. »Ach, Mist, die hat doch einen großen Anteil daran, dass ich in diesem Schlamassel stecke. Sie ist mir nie eine Hilfe gewesen.«
Die nächste Viertelstunde ging damit hin, dass wir dem Ausmaß von Toms Isolierung nachspürten. Seine beiden Töchter waren soeben ans College gegangen, und er selbst lebte seit seiner zwei Jahre zuvor erfolgten Scheidung allein in seiner Wohnung. Seine Vergangenheit stand unter dem gleichen Thema. Toms Eltern waren bei einem Verkehrsunfall umgekommen, als er sechs Jahre alt war. Zusammen mit seinen beiden jüngeren Schwestern kam er in die Obhut eines Onkels, »der die beiden Mädchen vergötterte, mich dagegen nicht ausstehen konnte«. Ganz allmählich kam die Rede auf Toms Trinkgewohnheiten. Er gab bereitwillig zu, dass er sich Gedanken wegen seines Trinkverhaltens machte, und gestand, schon mehrmals einen Blackout gehabt zu haben und im vergangenen Jahr im betrunkenen Zustand mit dem Auto gefahren zu sein.
»Haben Sie je darüber nachgedacht, dass Sie vielleicht Alkoholiker sein könnten?«, fragte der Therapeut.
Tom lächelte bitter. »Um ehrlich zu sein, in letzter Zeit mache ich mir Gedankenüber mein Trinkverhalten. Vielleicht habe ich ein Alkoholproblem, aber ich glaube nicht, dass ich Alkoholiker bin.«
»Hm. Sie wissen, dass das ein wichtiger Unterschied ist.«
»Was für ein Unterschied?« Tom zog die Brauen hoch.
»Ob Sie Alkoholiker sind oder jemand, der ein Alkoholproblem hat.« Der Therapeut beugte sich vor. – »Und was ist der Unterschied?«, fragte Tom.
»Also, zunächst einmal bestimmt das unsere Art, das Problem anzugehen. Wenn Sie Alkoholiker sind, dann können Sie per definitionem nicht normal trinken, und die einzige Behandlung, die funktioniert, ist die totale Abstinenz.« Der Therapeut lächelte Tom ermutigend an. »Wenn Sie dagegen Problemtrinker sind, dann gibt es vielleicht noch andere Möglichkeiten.«
Tom schwieg ein paar Sekunden lang, schürzte die Lippen und sah den Therapeuten an. »Was glauben Sie,
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