Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bindung und Sucht

Bindung und Sucht

Titel: Bindung und Sucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Heinz Brisch
Vom Netzwerk:
Nachdenken hatte einen erheblichen Anteil an Emmas Problem. Ihr Leben spielte sich zum größten Teil in ihrem Kopf ab. So zog er es vor, auf die Wahrheit des Körpers und die Authentizität ihrer Gefühle zu setzen. Emma brauchte keine Erklärung; sie brauchte eine Erfahrung. In diesem Wissen sagte der Therapeut freundlich: »Luft holen«.
    Emma folgte der Anweisung und atmete tief ein. Der zwanghafte physische Widerstand ließ in dem Augenblick nach, in dem ihr Körper nicht mehr gegen ihre inneren Restriktionen ankämpfen musste. Sie ließ dem natürlichen Fließen und Vergießen ihrer Tränen freien Lauf.
    Als das Weinen für eine Weile versiegte, spornte der Therapeut sie von neuem an: »Luft holen!«
    Wieder hielt sie die Luft an. Seine Aufforderung erlaubte ihr wiederum, auf Kontrolle zu verzichten. Mit dem langsamen Ausatmen ließ sie es zu, dass weitere schädliche und toxische Elemente abgestoßen wurden, und erleichterte es ihren Gefühlen, sie zu durchschwemmen. Sie weinte jetzt leise, verhaltener.
    Dr. Davis wartete geduldig, bis das Weinen von sich aus wieder zum Stillstand kam.
    Nachdem der Tränenfluss versiegt war, sah Emma zum Therapeuten hin und lächelte gequält. Sie holte sich die Schachtel mit den Kleenextüchern, die links vor ihr auf dem Tisch stand, auf den Schoß, zog ein paar Tücher heraus und trocknete sich die Augen, bevor sie sich schneuzte .
    Der Therapeut sah weg. Dass er Emmas Weinen mitangesehen hatte, erschien ihm nicht als zudringlich, wohingegen er sie beim Schneuzen lieber nicht anstarren wollte. Das Entfernen von Nasenschleim war schließlich eine noch privatere Angelegenheit.
    Endlich fing Emma an zu reden. »Mein Gott, wird Ihnen nicht irgendwann schlecht von meiner Heulerei?«
    Er ignorierte die Frage. »Also, erst mal betrachte ich Ihre Gefühle nicht als erbärmlich, sondern als schmerzlich.«
    Erleichterung huschte über ihr Gesicht. Sie hielt den Blickkontakt und lächelte, sank dann in ihren Stuhl zurück und fuhr sich mit den Händen durch das Haar. »Wann werde ich endlich über diese Dinge reden können, ohne dass sich mir der Magen umdreht?«
    »Alles zu seiner Zeit.« Er beugte sich vor. »Wenn Ihr Körper mit der Trauer fertig ist, wird er es Ihnen mitteilen. Lassen Sie Ihren Emotionen bis dahin ihren Lauf. Das Schlimmste, was Sie tun können, ist , sich noch einmal von Ihren Gefühlen abzuschneiden. Wenn Sie das machen, werden Sie wieder anfangen zu trinken.«
    Emma zog eine Grimasse. »Das ist nicht die Antwort, die ich haben wollte.«
    Er nickte. »Ich weiß. Das ist ja Teil des Problems.«
    Sie wandte den Kopf zur Seite und tat naiv. »Was wollen Sie damit sagen?«
    Er zögerte und lächelte ihr wissend zu. »Wenn Sie nicht so verdammt arrogant wären, dann wäre alles leichter für Sie. Ihr Stolz macht es Ihnen schwer, sich mir gegenüber verletzlich zu zeigen.«
    »Nehmen Sie das nicht persönlich. Verletzlichkeit gestatte ich mir gegenüber niemandem.« Sie zwang sich zu einem Lachen. »In den letzten sechs Monaten habe ich mir Ihnen gegenüber mehr peinliches Geheul geleistet als mein ganzes Leben lang gegenüber irgendjemand anderem.«
    Dr. Davis lächelte zurück. »Es wäre gut, wenn Sie lernten, zwischen dem, was Ihnen peinlich ist, und dem, was Sie schmerzt, zu unterscheiden.«
    Emma sah ihm direkt in die Augen. »Sie haben recht. Ich urteile ständig über mich selbst.«
    »Ja, genauso wie Ihre Mutter das tat, als sie Sie fragte, was Sie getan hätten, das Ihren Onkel veranlasste, Sie zu betatschen. Eingefahrene Gewohnheiten sind schwer zu durchbrechen.«
    »Es ist halt so, dass ich manchmal so enttäuscht von mir selbst bin.«
    »Sind Sie das auch in diesem Augenblick, mir gegenüber?«
    »Aber ja. Sie kommen jeden Tag hierher und helfen mir zu klären, was ich fühle. Sie müssen doch denken, dass ich mittlerweile gelernt haben sollte, das selbst herauszufinden.«
    »Dass Sie sich so schwer damit tun, Ihre Gefühle zu erkennen, wirkt auch wieder wie ein Werturteil.«
    »Natürlich.« Ein schwaches Lächeln glitt über ihr Gesicht. »Wie Sie mir ja immer wieder deutlich zu verstehen geben, sorge ich dafür, dass meine peinlichen Gefühle mich nicht überwältigen, indem ich versuche, perfekt zu sein.«
    Er nickte.
    »Fühlen ist halt etwas, was ich nicht sehr gut kann«, sagte Emma mit einer Spur von Abscheu in der Stimme. »Ich habe nicht viel Übung darin.«
    »Es gibt noch etwas anderes, in dem Sie nicht viel Übung haben«, antwortete Dr.

Weitere Kostenlose Bücher